Hier schreiben Hobbydichter für Lyrik-Freunde – meist Gereimtes und nur Druckreifes! Willkommen also, viel Vergnügen mit unseren Gedichten und deren Bebilderung!

Aufrufe unseres Blogs erfolgen automatisch mit Sicherheitsprotokoll "https". Am 18. Mai 2022 hatten wir unseren 600. Beitrag in den Blog gestellt!

Bereits seit Jahresbeginn bringen wir neue Folgen an Kalenderblättern und Monatsbildern. Darum herum dann das, was sich an Einfällen so ergibt – man wird sehen! Nun ja, was man auch sieht: wir "unterschlagen" seit einer ganzen Weile auch einen gewissen Anteil an sanfter Erotik nicht länger - die Zeiten sind eben so ...

Wir teilen den Lesern unseres Versbildners mit und bitten um Verständnis, dass wir auch weiterhin das monatliche Angebot auf 6 Beiträge beschränken - die Kontaktarmut dieser Zeit bringt leider auch eine gewisse Ideenarmut mit sich. Neueinstellungen erfolgen damit um die Kalendertage des 1., 6., 11., 16./17., 21./22., 25.-27. eines Monats.

Freitag, 27. September 2019

Menschenwege

Karikatur von Darwins Theorie im "Punch Almanach" auf das Jahr 1882;
Urheber: unbekannt; via wikimedia.commons; gemeinfrei.


Menschenwege

Der Mensch, er denkt sich seinen eignen Weg;
wie er ihn gehen wird nun Schritt für Schritt,
dass über jeden Fluss auch führt ein Steg,
der sichert vor Gefahren jeden Tritt.
Doch kommt es selten so, wie er gedacht,
der Zufall schlägt oft zu mit aller Macht.

Ein kleines Kind wünscht sich der Mutter Nähe,
die es neun Monde intensiv gespürt.
Das Leben aber, dies verflixte zähe
gewährt nicht alles, wie es ihm gebührt.
So muss es früh, beizeiten schon erfahren,
sich zu bescheiden, und nicht erst nach Jahren.

Ein junger Mensch, der Schule kaum entflohen,
stellt sich bei seinem neuen Meister vor.
In seiner Arbeitswelt, der oftmals rohen,
möcht gern er singen noch im Jugendchor:
"Die Kinderzeit, es waren schöne Jahre,
heut nimmt man mich doch sehr an die Kandare."

Die Liebe trifft - fast! - jedes menschlich Wesen,
und wenn sich fand das rechte Gegenstück,
dann geht es ohne langes Federlesen
hinein ins wohl erwünschte Eheglück.
Es hängt der blaue Himmel voller Geigen;
wie's weitergeht, wird sich erst später zeigen.

Der Mensch, er denkt sich seinen eignen Weg;
weiß er denn auch, was seine Schritte lenkt?
Nimmt er in Anspruch – als sein Privileg –
es werde kommen, wie er selber denkt?
Das ist für mich die Frage aller Fragen,
die Antwort kenn ich nicht: muss sie vertagen!

© lillii (Luzie-R; 08/2019)
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Zur historischen Einordnung der Abbildung:
Charles Darwin (1809-1882) gilt wegen seiner Beiträge zur Evolutionstheorie als einer der bedeutendsten Naturwissenschaftler aller Zeiten.
Die abgebildete Karikatur erschien im "Punch Almanach" auf das Jahr 1882, der Ende 1881 herauskam. Da hatte Darwin gerade sein letztes Buch "Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer" veröffentlicht. Gehässigkeit besitzt eben schon immer flinke Sohlen, meist aber hat sie nicht recht.

Dienstag, 24. September 2019

Schillers "Göttinnen der 7 Künste"/5: Musik

Jacopo Tintoretto (1518-94; Venedig): Allegorie der Musik
(des Künstlers einzige Deckenmalerei in der Art "trompe l'œil")
Standort: Contini Bonacossi Coll., Florenz, ~1972; via wikimedia.commons;
Referenz: Sotheby's; Liz.: CC BY-SA 4.0 int 
 
Die Schutzgöttinnen der Künste sind in der griechischen Mythologie
die olympischen Musen: 9 an der Zahl, wie von Hesiod überliefert;
 dargestellt z. B. im Musen-Peristyl des Achilleion auf Korfu (~1890).
Betrachtern fällt auf, dass unter diesen neun die bildenden Künste fehlen,
 aber Astronomie, Geschichte sowie 4 literarische und 3 musikalische Gattungen
 vertreten sind! Auch Friedrich Schiller verließ das alte Muster und benennt in der
 "Huldigung der Künste" (1804) als "der Künste Schar des Schönen" und Göttinnen:
 Architektur, Skulptur, Malerei, Poesie, Musik, Tanz und Schauspielkunst.


Schillers "Göttinnen der 7 Künste"/5: Musik

Gehör ist einer nur von unsren Sinnen –
wem die Natur ihn vorenthält, ist taub.
Wir andern hören, wie die Bächlein rinnen
und wie es raschelt, fällt von Bäumen Laub.
Das aber sind Geräusche, nicht gerufen,
denn weit ist es von da zum reinen Ton,
der stetig schwebt, auch unterteilt in Stufen,
der uns in Träume hüllt, wie süßer Mohn.
Geleitet hat die Göttin uns in Bahnen:
sie fand das Ebenmaß, lässt uns nur ahnen.

Wer sich gesellt zu großen Sängerscharen,
der wird als Einzelner kaum mehr gehört;
wer kein Solist, der wird erst recht erfahren,
dass auch sein Instrument niemand betört.
Am Dirigentenpult steht der Experte,
befeuert oder zügelt den Elan –
schwingt elegant den Taktstock als die Gerte,
die Beifall zaubert, wie es scheint – spontan.
Doch wer mit einem Lied durchstreift das Land,
den führt höchstselbst die Göttin bei der Hand.

© elbwolf, 22.09.2019

Gemeinsamer Auftritt des Mai-Festival-Chors mit dem Cincinnati-Sinfonieorchester
im Springer-Auditorium der Music Hall von Cincinnati (Ohio) am 18. Mai 2018
Foto+©: KMoore CSymphony; via wikimedia.commons; Liz.: CC BY-SA 4.0
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• Der Verfasser dieses Versuchs ist sich sehr wohl bewusst, dass man zwar die Schiller'sche Metrik aus der "Huldigung der Künste" nachbilden kann, dass aber niemand Schillers Wortgewaltigkeit und die Tragweite seiner Worte erreichen könnte – und bittet daher um Nachsicht.
• Anmerkung zur geschichtlichen Einordnung:
       Das älteste sumerische Musikinstrument ist auf einer Tontafel der späten Uruk-Zeit (Ende 4. Jahrtausend v.u.Z.) abgebildet. Es zeigt eine dreisaitige Harfe. Die Lyra ist ein antikes Saiten­instrument aus der Familie der Leiern, das aus dem 9. Jh. v.u.Z. stammt.

Die "Musik"-Musen der Griechen waren (mit ihren Attributen):

Euterpe (Musik; Doppelflöte), Polyhymnia (Feierliche Musik; Leier), 
       Abb.: 'Released into the public domain by its author, Pearson Scott Foresman'

Freitag, 20. September 2019

Stadtlyrik/1 – stadt im regen (Perdita Klimeck a. G.)

Alfred Smith (1854-1932)
Strömender Regen, Place de la Concorde, Paris (1888)
Abb.: Tylwyth Eldar, 29.10.2018; via wikimedia.commons; Liz.: gemeinfrei

stadt im regen

der sonnenmaler
hat seine pinsel eingepackt
nur hie und da erinnert noch
ein tupfen rot und gelb
an seine meisterwerke
sie leuchten aus dem graugemisch
wie tausendjährig sterne
die doch schon längst
erloschen sind

ein schwarzer schirm
begegnet mir
ein hut in braun
tief in die stirn gezogen
in einer pfütze spiegelt sich
die kirchturmspitze
und kunterbunte gummistiefel
springen lachend
dem regen ins gesicht

© Perdita Klimeck
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Veröffentlicht in "Asphaltgeflüster/Stadtlyrik", Lyrik aus dem
Sperling-Verlag, Nürnberg, 2014. ISBN 978-3-942104-29-6

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Wir vom Versbildner freuen uns, dass unsere Gastautorin Perdita Klimeck über die Dauer eines Jahres unserem Blog einen monatlichen Gedichtbeitrag zur Verfügung stellt – überwiegend freie Lyrik!

Perdita Klimeck, Jahrgang 1961, hat ihre Kindheit in Wolfenbüttel und Bonn verbracht. Sie lebt seit 1978 in Euskirchen (NRW); beruflich arbeitet sie im Bankgewerbe.
Lyrik hat sie schon immer begeistert, bis sie sich endgültig dem "poetischen Wort" verschrieb und ab 2009 in Lyrikzeitungen und Anthologien erste Beiträge veröffentlichte.
Im damals noch recht jungen Sperling- Verlag erschien 2011 ihr Lyrikband Randerscheinungen, dem 2013 dann der Lyrikband wortgefecht (gemeinsam mit Brigitta Wullenweber, Florian Scharf und Frank Seidel) folgte. Im März 2017 erschien dort ebenfalls ihr dritter Lyrikband Rabenschreie und Erdbeermond - gemeinsam mit Marina Maggio und Ingrid Herta Drewing.

Über das Gefühlsmäßige im Umgang mit Lyrik meint Perdita Klimeck in "wortgefecht", "Lyrik dürfe nicht im Netz verschwinden":
"Wörter sind für mich wie Pusteblumensamen. Sie sind einfach da, irgendwo in der Luft, auf dem Asphalt, in Einkaufspassagen und unter Parkbänken. Ich suche sie nicht, aber aus irgendeinem mir völlig unerklärlichen Grund finden sie mich. Überall. Sie krallen sich an mir fest und werden dann wieder fortgeweht. Mir ist dann so, als hätte es sie nie gegeben.
Manche bleiben ein wenig länger. {…} Diese Worte fange ich behutsam ein und gebe ihnen den Rahmen, den sie verdient haben. {…}
Aber da sind auch die, die unter meine Haut kriechen. An mir wachsen, in mir wachsen. {…} Auch hier fertige ich Rahmen an. Weniger glänzend, weniger schön. Aber intensiv gefärbt, mit jenen Farben, die mir in dunkleren Momenten zur Verfügung stehen."

Dienstag, 17. September 2019

Das Ghasel als Gedichtform

Der Pizza-Ofen im Lokal "Kleine Kreationen", Fremantle, West-Australien;
Foto&©: Gnangarra, 15.1.2011; via commons.wikimedia.org; Liz.: CC BY 2.5 au

Das Ghasel als Gedichtform

Das Ghasel (oder die Ghasele – stammt aus dem Orient) ist ein Gedicht, das man auch als eine (einzige) Strophe auffassen kann; es scheint aber auch nicht untersagt zu sein, mehrere solcher "Ghasel-Strophen" zu einem Gedicht zusammenzufügen – wie schon in der "Moritat von der Gräfin und ihrem Ritter" anschaulich gezeigt.

Ein (einstrophiges) Ghasel oder eine einzelne Ghasel-Strophe besteht aus aneinandergefügten Verspaaren mit folgenden Eigenschaften:
·         ihrer Anzahl nach sind es mindestens 3, allerhöchstens 10 Verspaare;
·         das erste Verspaar ist immer ein Paarreimer ("aa");
·         alle folgenden Verspaare sind ungereimt und haben den Aufbau "xa", d. h. die erste Verszeile reimt nicht mit (Kodierung dafür ist "x"), die zweite endet immer auf ein Wort mit der im allerersten Reimpaar verwendeten Reimsilbe "a";
·         das Ghasel/die Ghaselstrophe hat damit die Struktur "aaxaxa…xa";
·         die Verse dürfen beliebig viele 2- oder sogar 3-silbige Versfüße haben, müssen aber alle den gleichen Bau aufweisen.

Man wird die nicht-mitreimenden x-Verse so handhaben, dass der jeweils folgende a-Vers möglichst plausibel gerät. Andererseits wird man oft längere Verse (also mit mehr Versfüßen) einsetzen, um das Wiederauftreten des a-Reims natürlicher erscheinen zu lassen.
Ursprüngliches Anliegen des Ghasels war eine in erotischen Worten gehaltene Ansprache des Dichters an die abwesende Geliebte.
Hier folgen zwei bescheidenere Versuche mit Ghaselen über Alltäglichkeiten:


Essenspause (Lehrgedicht in Ghaselform)

Nun scheint mir doch, ich hätte lang genug gesessen,
es wäre Zeit, um endlich wieder was zu essen!
Im Wirtshaus riefe ich jetzt nach der Speisekarte,
doch hier bei mir daheim ist das nicht angemessen.
Da ist ja auch die immer gutgelaunte Köchin,
sie hat noch nie selbst kleinste Wünsche je vergessen,
ist stets bestrebt, das Beste jedem zu servieren,
egal, wenn Missgunst das auch ausgibt als "verfressen".
Die Köchin lässt sich niemals aus der Fassung bringen,
behält den Herd im Blickfeld, auf dem unterdessen
die Speisen garen; bald schon können sie vom Feuer.
Der Gong ertönt – zu Tische! – fertig ist das Essen.


Pitsche-Patsche (Lehrgedicht in Ghaselform)

Jede Fliege wird zu Matsche –
schlägt man sie mit einer Patsche.

Sieben gleich mit einem Schlage,
das ist dümmliches Gequatsche.
Zielen muss man schon ein wenig

nicht bloß fuchteln mit der Tatsche.
Schließlich gibt’s dafür Geräte:
bestens geht die Fliegenklatsche.
Schaff dir eine an – noch heute:
schon ist Ruhe auf der Datsche!

© elbwolf (09/2019)
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Beim Layoutieren hatte sich der Beitrag versehentlich "verlaufen" – wir bitten das verspätete Erscheinen zu entschuldigen!

Donnerstag, 12. September 2019

September – ein Monatsbild

Hans Thoma (1839-1924): September (Monatsbild aus dem Festkalender)
Mappenwerk, Seemann Verlag Leipzig; via wikimedia.commons; gemeinfrei.

September

"Der September bringt mit seiner Waage
die Gleichheit von Tag und Nacht,
der heilige Michael, der Engel der Gerechtigkeit, mit starker Wehr,
hat den Drachen der Zwietracht unter seinen Füßen." [Hans Thoma]

Die Übergänge bei den Jahreszeiten –
die wollen nie versteckt vorübergleiten.
Der Sommer hat erneut nun ausgedient;
Sankt Michael wird ihn hinüberleiten.
Dem Tag wie auch der Nacht teilt er gerecht
die Stunden zu nun schon seit Ewigkeiten.
Der böse Drache unter seinen Füßen,
von ihm besiegt im Kampfe schon beizeiten,
ist machtlos, denn des Engels scharfes Schwert
hält nieder – würde ihm den Tod bereiten.

September, Herbstes allererster Mond,
der mit den Farben die Natur belohnt;
die Tage – warm, die Nächte merklich kühler:
ein Übergang, von alters her gewohnt.
Die Erntezeit, sie geht dem Ende zu;
des Bauern Feldarbeit hat sich gelohnt.
Des Sommers Frucht kann nun genossen werden.
Die Vogelnester sind nicht mehr bewohnt.
Es blühen rosa noch die Herbstzeitlosen,
denn sie sind Herbstes Kühle ja gewohnt.

Das Wesen der Natur ist sich bewegen;
doch was heranwächst, gilt es zu umhegen.
Insektenwelten leben nochmals auf
und emsiges Gesumm ist stets zugegen.
Die Vögel sammeln sich zum Zug nach Süden,
was überwintert, braucht sich nicht zu regen.
Das Gras wird jetzt zum letzten Mal gemäht.
Verharren dann, wie um zu überlegen …
Die nicht sehr lange, wohlverdiente Pause
schließt einen Kreis, ohn' ihn zu widerlegen.

© lillii (Luzie-R)

Montag, 9. September 2019

Moritat von der Gräfin und ihrem Ritter

Moritz von Schwind (1804-71): Der Ritt Kunos von Falkenstein (1850-60) *)
Leipzig, Museum der bildenden Künste; via The Yorck Project Nr.8948; gemeinfrei.

Moritat von der Gräfin und ihrem Ritter       **)
# mit Ghasel-Strophen nacherzählt #
/Ursprungsvariante: Parodie in mutwillig-drastischer Reimung; ***)
Ansbacher Morgenblatt Nr.44 von 1847; Autor: Reritz./

1
Die Gräfin schaut schon lange aus des Burgfrieds Scharte: 
sie sucht am Horizont nach einer Feldstandarte,                    
denn unablässig stellt der Frau sich diese Frage,                   
ob nicht vielleicht der heiß geliebte Mann sie narrte,              
und draußen gar nicht nur als tapfrer Ritter kämpfe –                        
der Mann, den selber sie mit Ungeduld erwarte.                     

2
Sie hört ganz deutlich das Gezirp des Heuschrecks schrillen;
empfindet Sehnsucht, ihre Leidenschaft zu stillen.                 
Ach käme er nur heil zurück aus seinen Kämpfen,                
sie wäre ihm mit Leib und Seele ganz zu Willen.                    
Nur nicht an ihre Stelle eine andre setzen –                            
dann möge auf dem Rost ihn der Gehörnte grillen!                

3
Die Frau beginnt sich ihrem Gram zu überlassen,                  
auch wurden alle Taschentücher längst zu nassen …            
Da sieht sie im Vorüberlaufen etwas liegen –                          
die alte Flinte! Prompt kriegt sie die jetzt zu fassen,               
legt an und schießt sich auf der Stelle über'n Haufen.            
Da lag sie nun, um unverzüglich zu verblassen.                     

4
Kaum war der Gräfin Selbstentleibung so geschehen,          
sieht man am Horizont des Ritters Fähnlein wehen.              
Schon sprengt den Burgberg er herauf zur Brücken              
erklimmt den Söller – doch welch Unglück muss er sehen? 
Er stampft verzweifelt auf mit seinen Reiterstiefeln                
beim Anblick ihrer Leiche – er kann's nicht verstehen.          

5
Was hilft es, mit der Rüstung und den Spor'n zu klirren?      
Das dient dazu, den Mann nur weiter zu verwirren.                
Warum hat bloß der Mut die Gräfin jäh verlassen,                  
beginnt es ihm durch sein zermartert Hirn zu schwirren        
Noch einen Augenblick – er hätte ihr gewunken,                    
sie würde jetzt entzücken ihn mit ihrem Girren.                       

6
Sein Auge blitzt und dann entreißt er wild-verwegen             
der Scheide am Gehänge seinen Ritterdegen;                       
den schwingt er heftig, stößt die wohlgeschärfte Spitze        
sich in die Brust – verscheidet, und das ohne Segen.            
Das Schicksal hat sie beide erst vereint im Tode:                   
den starb sie seinet-, er darauf nun ihretwegen.                     

7 (Moral)
Ist unklar eine Lage – mach um sie den Bogen!                     
In Eile und mit Vorurteil wird nichts erwogen,                          
Den Degen und die Flinte lasse ganz beiseite:                       
sie bringen Gutes nicht – du bist doch gut erzogen.               
Am eigenen Geschick darfst niemals du verzweifeln,            
sonst schaufelst du dein eignes Grab – ist nicht gelogen!    

© elbwolf /für die Nacherzählung; 04.09.2019/

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Meine eigene Fassung von "Gräfin und Ritter" habe ich erst entworfen und ausgeführt, als die komplizierte Rückverfolgung der ursprünglichen Gedichtidee bis zur Quelle aufgeklärt und der Urheber ermittelt war. Die Schritte dieser Recherche sind im Beitrag hier unmittelbar drunter beschrieben.

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Anmerkungen:
*) Sarkastisch gemeint:
Moritz von Schwind muss, wie man an der Abbildung ersieht, Gräfin und Ritter wohl zu deren besten Zeiten gemalt haben …
**) Moritat
ist eine schaurige Ballade und das Erzähllied eines Bänkelsängers, der sein Publikum direkt anspricht und dabei moralische Forderungen einstreut. Handelt der Bänkelsang von einer Mord- oder Gräueltat, so spricht man von einer Moritat. /nach Wikipedia/
***) Der Parodiebegriff
in der Literaturwissenschaft stimmt weitgehend mit der Definition überein, die Gerhard Hess (1907-83); Gründungsrektor Uni Konstanz) gab: "Parodie ist aufzufassen als Schöpfung, die ein anderes Werk, eine Werkgattung oder eine Stilrichtung nachahmt und dabei in beabsichtigter Weise Komik und antithematische, d. h. gegen die Vorlage oder deren engeres Umfeld gerichtete Kritik für denjenigen erkennbar zum Ausdruck bringt, der die Vorlage kennt und das zur Wahrnehmung einer Parodie erforderliche intellektuelle Verständnis besitzt.”

Langer Weg zu einer "literarischen Quelle"

Carl von Marr (1858–1936): Adam und Eva in moderner Auffassung
oder Ritter und Junges Weib (~1900?);
via wikimedia.commons & hampel-auctions; gemeinfrei.
Langer Weg zu einer "literarischen Quelle"

Mir gerieten die Verse eines Kollegen in die Hände, die auf den ersten Eindruck hin recht belustigend wirkten und als "alte Ballade" bezeichnet waren:

Die Gräfin stand auf einer ihrer Burgen –
Das Angesicht umflort von Kummer und von Surgen.
~ ~ ~
Und wisse, dass das Grab sich selber schaufelt,
Wer an dem eigenen Geschick verzwaufelt.

Keine Frage: eine Parodie mit so genannten "schmutzigen Reimen" als Kunstform oder etwas nach der Devise "Reim dich, oder …!"
Kein © dabei – also erst einmal zweifeln. Google, angefüttert mit "Gräfin und Ritter", könnte es wissen … Volltreffer – und artig variiert noch dazu!

Songtext Gräfin und Ritter von Fred Fesl: Aus dem Album "Die Vierte – Bayerische Und Melankomische Lieder", erschienen: 1. März 2004:
Es saß die Gräfin auf der Zinne ihrer Burgen
Das Aug' umflort von Kummer und von Surgen
~ ~ ~
Und wieder kein ©! Der Gesangskünstler wird doch nicht ebenfalls einer Versuchung erlegen sein? Er war!

Google, nunmehr hochgepäppelt mit "Gräfin und Ritter Gedichte" weist im 4. Link auf eine Sammlung "Gedichte für alle Fälle", die als Gedicht Nr. 2173 diesen Titel führt:
Unbekannt:
Entsetzlich
Es sitzt die Gräfin auf der Zinne ihrer Burgen,
Das Angesicht umflort von Kummer und von Surgen

~ ~ ~
Ein definitiv "neuer" Titel und ein erneut abweichender Text – also weitermachen!

Und tatsächlich: im bekannten Verlag C. H. Beck hat Albert von Schirnding 2007 ein Hausbuch deutscher Dichtung "Der ewige Brunnen" (1133 S., mehr als 1600 Gedichte) neu herausgegeben, das in mehreren Auflagen erschien und wohl noch verfügbar ist: sie alle enthalten "unser" Werklein:
Unbekannt:
Entsetzlich

Damit wären wir in der Sackgasse gelandet, aber Google fährt nicht nur im Lande herum und knipst Street maps zusammen, es scannt auch alte Bücher und Zeitschriften, darunter diese:

Entsetzlich
Autor unbekannt

Die "Punscher" hatten den Abdruck so angekündigt: "Eine Ballade, die allen wühlerischen Tendenzen ausweicht, und sich immer auf dem harmlosen Gebiet der Romantik bewegt" – 1848 war ja gerade erst ein Jahr her! Vielleicht wollte Google nun auch einmal hinter die 1848er Barrikaden schauen und scannte darum aus "friedlicheren Zeiten" gewissenhaft auch noch dies:

vom Sonntag, dem 31. Oktober 1847 (III. Jahrgang), S.175/6:
Entsetzlich.
Eine Ballade in zwei Theilen.
~ ~  ~
                                    (Rieritz)

Da taucht er endlich aus dem Nichts auf, der Verfasser dieser fast schon Posse: "Rieritz" heißt er, und das ist vorläufig alles, was wir über ihn wissen.
Aber es bereitet Vergnügen, nach 170 Jahren Verheimlichung erstmals wieder seinen Namen zu nennen, zumal er sich dort im Morgenblatt in bester Gesellschaft befindet, denn unmittelbar vor ihm sind Friedrich Hebbel sowie Joseph Freiherr von Eichendorf mit seiner Novelle "Aus dem Leben eines Taugenichts" abgedruckt.

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Getrennt von diesem Recherchebericht bringe ich meine eigene Fassung von "Gräfin und Ritter" auf Versbildner in Form einer Moritat, nacherzählt mit Ghaselen-Strophen, und das unmittelbar hier drüber.

© elbwolf /für Text und Recherche/

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Als Zugabe der Wortlaut des Originals
Erstmals nach 170 Jahren mit Nennung des Autors, von dem bislang nur der Name bekannt ist, sonst nichts.

"Ansbacher Morgenblatt für Stadt und Land", Nr. 44
vom Sonntag, dem 31. Oktober 1847 (III. Jahrgang), S.175/6

Rieritz:
Entsetzlich. Eine Ballade in zwei Theilen.

Erster Theil.
Es sitzt die Gräfin auf der Zinne ihrer Burgen,
Das Angesicht umflort von Kummer und von Surgen.
Halb welk ist schon die jugendliche Holde;
So schaut sie tief hinab auf das Gefolde.
Da blühet Alles in des Frühlings Prangen
Und Jubel tönet von der Vöglein Zangen.
Die Rosen duften und die Nelken sprossen;
Und Philomele flötet aus Cyprossen.
Die Lerchen schmettern und die Käfer summen,
Da klagt die Gräfin: "Wann wird er wohl kummen?"
Ob mich ein Dämon seiner wohl beraubet?
Wo säumt der Mann, den meine Seele laubet?
Ist er mir jetzt schon gram? Will er mir trotzen?
Dass er mich läßt auf dieser Zinne sotzen?
Bricht er die Treue, die er mir geschworen,
Bricht er die Treue schon nach dritthalb Johren?
Hab' ich's verschuldet, dass er meiner spottet?
War mein Geschick mit seinem nicht verkottet?
So klagt die Gräfin und ihr Aug', ihr schwarzes,
Es rinnt im Uebermaß des tiefsten Schmarzes.
Ihr Wort erstickt im bittersten Geschluchze
Und in Verzweiflung faßt sie eine Buchse.
Sie spannt den Hahn – von Satanas verlocket –
Drückt los und – ach! – schon liegt sie hingestrocket.
Sie liegt entseelt, durchschossen auf dem Boden,
Und neben ihr die Waffe, die sie selbst geloden.

Zweiter Theil.
Kaum aber hat ihr Leben sie verloren,
Sieht man auf's Schloß zu einen Ritter galloporen.
Schon ist er da; schon springt er von dem Rappen
Und eilt hinauf die langen Wendeltrappen.
Schon ist er auf der Zinne, ach! und sieht mit schrecken
Die blasse Leiche vor der starren Blecken.
Da stampft er wild den Boden mit den Stiefeln
Und ruft: "warum, o Gräfin, mußtest du verzwiefeln?" –
Warum konnt'st du, o Holdeste der Holden,
Dich nicht noch einen Augenblick gedolden?
Und muß ich Dich als blut'ge Leiche schauen,
Was soll ich jetzt in dieser Welt noch thauen?"
Er spricht's; es funkeln seine wilden Augen,
Und aus der Scheide zieht er seinen Daugen.
Und schwingt ihn keck und mit dem grimmsten Trotze
Stößt er sich in die Brust die scharfe Spotze.
Er sinket nun mit einem Schmerzeslaute,
Und schon liegt er entseelt in seinem Blaute.
Mit Schrecken sieht man bald vom Zinnengatter
Den Leichnam von der Gräfin und dem Ratter.

Nutzanwendung.
Der Uebereilung kann nichts Gutes nicht entwachsen;
O hüte dich vor Degen, Dolch und Bachsen!
Und wisse, daß sein Grab sich selber schaufelt,
Wer an dem eigenen Geschick verzwaufelt.

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Wer dächte, das könne doch nicht alles an dichterischem Ulk sein, der hat recht.
Ein paar Beispiele:

Wilhelm Busch, im Vorwort zum heiligen Antonius von Padua:
Wehe! Selbst im guten Öster-
Reiche tadelt man die Klöster – –

Christian Morgenstern: Der Lattenzaun:
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.

und ein leider nicht identifizierbarer Kommentator in einer Community:
Die Zukunft, die Welt, sie wird digital san, -
Doch der Fortschrittsbalken kommt kaum hinten an!
Ja, der Download stockt, er schlägt gar fehl -
Wo ist hier das Glasfaserkabel?