Hier schreiben Hobbydichter für Lyrik-Freunde – meist Gereimtes und nur Druckreifes! Willkommen also, viel Vergnügen mit unseren Gedichten und deren Bebilderung!

Aufrufe unseres Blogs erfolgen automatisch mit Sicherheitsprotokoll "https". Am 18. Mai 2022 hatten wir unseren 600. Beitrag in den Blog gestellt!

Bereits seit Jahresbeginn bringen wir neue Folgen an Kalenderblättern und Monatsbildern. Darum herum dann das, was sich an Einfällen so ergibt – man wird sehen! Nun ja, was man auch sieht: wir "unterschlagen" seit einer ganzen Weile auch einen gewissen Anteil an sanfter Erotik nicht länger - die Zeiten sind eben so ...

Wir teilen den Lesern unseres Versbildners mit und bitten um Verständnis, dass wir auch weiterhin das monatliche Angebot auf 6 Beiträge beschränken - die Kontaktarmut dieser Zeit bringt leider auch eine gewisse Ideenarmut mit sich. Neueinstellungen erfolgen damit um die Kalendertage des 1., 6., 11., 16./17., 21./22., 25.-27. eines Monats.

Montag, 9. September 2019

Langer Weg zu einer "literarischen Quelle"

Carl von Marr (1858–1936): Adam und Eva in moderner Auffassung
oder Ritter und Junges Weib (~1900?);
via wikimedia.commons & hampel-auctions; gemeinfrei.
Langer Weg zu einer "literarischen Quelle"

Mir gerieten die Verse eines Kollegen in die Hände, die auf den ersten Eindruck hin recht belustigend wirkten und als "alte Ballade" bezeichnet waren:

Die Gräfin stand auf einer ihrer Burgen –
Das Angesicht umflort von Kummer und von Surgen.
~ ~ ~
Und wisse, dass das Grab sich selber schaufelt,
Wer an dem eigenen Geschick verzwaufelt.

Keine Frage: eine Parodie mit so genannten "schmutzigen Reimen" als Kunstform oder etwas nach der Devise "Reim dich, oder …!"
Kein © dabei – also erst einmal zweifeln. Google, angefüttert mit "Gräfin und Ritter", könnte es wissen … Volltreffer – und artig variiert noch dazu!

Songtext Gräfin und Ritter von Fred Fesl: Aus dem Album "Die Vierte – Bayerische Und Melankomische Lieder", erschienen: 1. März 2004:
Es saß die Gräfin auf der Zinne ihrer Burgen
Das Aug' umflort von Kummer und von Surgen
~ ~ ~
Und wieder kein ©! Der Gesangskünstler wird doch nicht ebenfalls einer Versuchung erlegen sein? Er war!

Google, nunmehr hochgepäppelt mit "Gräfin und Ritter Gedichte" weist im 4. Link auf eine Sammlung "Gedichte für alle Fälle", die als Gedicht Nr. 2173 diesen Titel führt:
Unbekannt:
Entsetzlich
Es sitzt die Gräfin auf der Zinne ihrer Burgen,
Das Angesicht umflort von Kummer und von Surgen

~ ~ ~
Ein definitiv "neuer" Titel und ein erneut abweichender Text – also weitermachen!

Und tatsächlich: im bekannten Verlag C. H. Beck hat Albert von Schirnding 2007 ein Hausbuch deutscher Dichtung "Der ewige Brunnen" (1133 S., mehr als 1600 Gedichte) neu herausgegeben, das in mehreren Auflagen erschien und wohl noch verfügbar ist: sie alle enthalten "unser" Werklein:
Unbekannt:
Entsetzlich

Damit wären wir in der Sackgasse gelandet, aber Google fährt nicht nur im Lande herum und knipst Street maps zusammen, es scannt auch alte Bücher und Zeitschriften, darunter diese:

Entsetzlich
Autor unbekannt

Die "Punscher" hatten den Abdruck so angekündigt: "Eine Ballade, die allen wühlerischen Tendenzen ausweicht, und sich immer auf dem harmlosen Gebiet der Romantik bewegt" – 1848 war ja gerade erst ein Jahr her! Vielleicht wollte Google nun auch einmal hinter die 1848er Barrikaden schauen und scannte darum aus "friedlicheren Zeiten" gewissenhaft auch noch dies:

vom Sonntag, dem 31. Oktober 1847 (III. Jahrgang), S.175/6:
Entsetzlich.
Eine Ballade in zwei Theilen.
~ ~  ~
                                    (Rieritz)

Da taucht er endlich aus dem Nichts auf, der Verfasser dieser fast schon Posse: "Rieritz" heißt er, und das ist vorläufig alles, was wir über ihn wissen.
Aber es bereitet Vergnügen, nach 170 Jahren Verheimlichung erstmals wieder seinen Namen zu nennen, zumal er sich dort im Morgenblatt in bester Gesellschaft befindet, denn unmittelbar vor ihm sind Friedrich Hebbel sowie Joseph Freiherr von Eichendorf mit seiner Novelle "Aus dem Leben eines Taugenichts" abgedruckt.

--------------------------------------------
Getrennt von diesem Recherchebericht bringe ich meine eigene Fassung von "Gräfin und Ritter" auf Versbildner in Form einer Moritat, nacherzählt mit Ghaselen-Strophen, und das unmittelbar hier drüber.

© elbwolf /für Text und Recherche/

---------------------------------------------- 
Als Zugabe der Wortlaut des Originals
Erstmals nach 170 Jahren mit Nennung des Autors, von dem bislang nur der Name bekannt ist, sonst nichts.

"Ansbacher Morgenblatt für Stadt und Land", Nr. 44
vom Sonntag, dem 31. Oktober 1847 (III. Jahrgang), S.175/6

Rieritz:
Entsetzlich. Eine Ballade in zwei Theilen.

Erster Theil.
Es sitzt die Gräfin auf der Zinne ihrer Burgen,
Das Angesicht umflort von Kummer und von Surgen.
Halb welk ist schon die jugendliche Holde;
So schaut sie tief hinab auf das Gefolde.
Da blühet Alles in des Frühlings Prangen
Und Jubel tönet von der Vöglein Zangen.
Die Rosen duften und die Nelken sprossen;
Und Philomele flötet aus Cyprossen.
Die Lerchen schmettern und die Käfer summen,
Da klagt die Gräfin: "Wann wird er wohl kummen?"
Ob mich ein Dämon seiner wohl beraubet?
Wo säumt der Mann, den meine Seele laubet?
Ist er mir jetzt schon gram? Will er mir trotzen?
Dass er mich läßt auf dieser Zinne sotzen?
Bricht er die Treue, die er mir geschworen,
Bricht er die Treue schon nach dritthalb Johren?
Hab' ich's verschuldet, dass er meiner spottet?
War mein Geschick mit seinem nicht verkottet?
So klagt die Gräfin und ihr Aug', ihr schwarzes,
Es rinnt im Uebermaß des tiefsten Schmarzes.
Ihr Wort erstickt im bittersten Geschluchze
Und in Verzweiflung faßt sie eine Buchse.
Sie spannt den Hahn – von Satanas verlocket –
Drückt los und – ach! – schon liegt sie hingestrocket.
Sie liegt entseelt, durchschossen auf dem Boden,
Und neben ihr die Waffe, die sie selbst geloden.

Zweiter Theil.
Kaum aber hat ihr Leben sie verloren,
Sieht man auf's Schloß zu einen Ritter galloporen.
Schon ist er da; schon springt er von dem Rappen
Und eilt hinauf die langen Wendeltrappen.
Schon ist er auf der Zinne, ach! und sieht mit schrecken
Die blasse Leiche vor der starren Blecken.
Da stampft er wild den Boden mit den Stiefeln
Und ruft: "warum, o Gräfin, mußtest du verzwiefeln?" –
Warum konnt'st du, o Holdeste der Holden,
Dich nicht noch einen Augenblick gedolden?
Und muß ich Dich als blut'ge Leiche schauen,
Was soll ich jetzt in dieser Welt noch thauen?"
Er spricht's; es funkeln seine wilden Augen,
Und aus der Scheide zieht er seinen Daugen.
Und schwingt ihn keck und mit dem grimmsten Trotze
Stößt er sich in die Brust die scharfe Spotze.
Er sinket nun mit einem Schmerzeslaute,
Und schon liegt er entseelt in seinem Blaute.
Mit Schrecken sieht man bald vom Zinnengatter
Den Leichnam von der Gräfin und dem Ratter.

Nutzanwendung.
Der Uebereilung kann nichts Gutes nicht entwachsen;
O hüte dich vor Degen, Dolch und Bachsen!
Und wisse, daß sein Grab sich selber schaufelt,
Wer an dem eigenen Geschick verzwaufelt.

--------------------------------------------

Wer dächte, das könne doch nicht alles an dichterischem Ulk sein, der hat recht.
Ein paar Beispiele:

Wilhelm Busch, im Vorwort zum heiligen Antonius von Padua:
Wehe! Selbst im guten Öster-
Reiche tadelt man die Klöster – –

Christian Morgenstern: Der Lattenzaun:
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.

und ein leider nicht identifizierbarer Kommentator in einer Community:
Die Zukunft, die Welt, sie wird digital san, -
Doch der Fortschrittsbalken kommt kaum hinten an!
Ja, der Download stockt, er schlägt gar fehl -
Wo ist hier das Glasfaserkabel?

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen