Die Sestine
gilt selbst in der einfacheren Art (mit lediglich Durchschieben der sechs ZSW =
Zeilenschlusswörter) als schwierig. Im Deutschen wurde sie zuerst von Martin
Opitz († 1639, Danzig) nachgebildet – trotzdem hat es bis auf den heutigen Tag keine einzige in
den "Kleinen Conrady" (Lauter
Lyrik. Eine Sammlung deutscher Gedichte, 2008) geschafft!
Im Conrady fand sich übrigens ein Vers von Christa Reinig (*1926):
hochverehrtes publikum
werft uns nicht die bude um
wenn wir albernes berichten
denn die albernsten geschichten
macht der liebe Gott persönlich
Wer den
Einstieg ins Format der Sestine über die zwei Vorstufen mit weniger Versen (nur
2 oder 4 ZSW) verinnerlicht hat, verfügt über alle Chancen, auch hier
zurechtzukommen – Herausforderung aber bleibt die Sache natürlich!
Zu Abb. & Buchtitel:
Justus
Georg Schottel (latinisiert: Schottelius; *1612; † 1676, Wolfenbüttel).
Titel der Berliner
Ausgabe als Taschenbuch in der Edition Holzinger, 2013.
(vollständiger, durchges. Neusatz mit einer
Biographie des Autors; derzeit nur antiquarisch verfügbar)
(B) Schottel's "De
Sextina" – Beispiel einer Sestine der einfacheren Art
Gern
überließen wir J. G. Schottel(ius) auf der Stelle das Feld – aber er dichtet in
der Sprache von vor mehr als 350 Jahren! Wir stellen uns also zunächst der Aufgabe,
ihn in einem heute verständlichen Deutsch wiederzugeben! Dabei reichen die
ersten beiden Strophen, um geltende Regeln zu erkennen (und gleich die Verslängen
von den alexandrinischen 12/13 Silben auf übliche jambische 10/11 zurückzunehmen):
Es
schleicht sich so dahin, kommt in Verzug,
Eh es
sich einstellt, das ersehnte Glück:
Man muss
mit Meisterhand und mühsam bauen,
Eh man
sein eignes Haus kann ganz besitzen:
Wenn mit Geduld
man baut, vertraut hat fest,
Kann man
genießen, was man sich gewünscht.
Die
Ostersonne strahlt uns wie gewünscht,
Ist hell
und klar, war lange in Verzug,
Bringt
den Geburtstag her, mit ihm viel Glück,
Erst
recht, wenn mit uns Himmelskräfte bauen:
Sie
lassen unsern Fürst ein Reich besitzen
Und
gründen seinen Herrschaftsanspruch fest.
. . .
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1:
u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
5:
u-u-u-u-u-
6:
u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-
1:
u-u-u-u-u-
2:
u-u-u-u-u-
3:
u-u-u-u-u-u
4:
u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-
. . .
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An Schottel's
Beispiel einer Sestine können wir Typisches erkennen:
● zunächst
dies: sie existiert noch, und sie ist gut dokumentiert; z. B. bei:
Gerhard Grümmer: Spielformen der Poesie, BI Leipzig, 1985; S. 179/80.
Gerhard Grümmer: Spielformen der Poesie, BI Leipzig, 1985; S. 179/80.
● sie hat 6
Strophen (gezeigt sind die ersten beiden) zu je 6 Versen;
● die
Metrik ist jambisch und 10/11-silbig. Übrigens: die Versverkürzung tut gut,
aber zu Zeiten des früheren barocken "Geschwafels" nahmen Dichter
(wie Schottel) eben gern Zuflucht zu Langversen, um "zu Stuhle" zu
kommen.
Ausnahmsweise ist hier zur Sestine rechtsbündig die Metrik zur Verdeutlichung angegeben.
Ausnahmsweise ist hier zur Sestine rechtsbündig die Metrik zur Verdeutlichung angegeben.
● es werden
6 ZSW gebraucht, und hier sind sogar bloß zwei Substantive darunter; zwei Verben, ein Partizip
(gewünscht) und ein Adverb (fest) – Spitze!
● die ZSW
reimen nicht – hier jedenfalls tun sie es nicht.
● das
Verfahren für die Anordnung der ein für allemal feststehenden ZSW in den
Folgestrophen ist bei der "einfacheren Art einer Sestine" das "Durchschieben der ZSW nach unten":
das dabei aus der untersten (hier also immer der sechsten Position)
hinausgeschobene ZSW wird in der jeweiligen Folgestrophe als oberstes gesetzt –
die Reihenfolge der übrigen fünf bleibt in Bezug aufeinander in der
Folgestrophe erhalten!
● Herausforderung
wie Chance scheinen gute Übergänge zwischen den Strophen zu sein – da kann der Dichter
erfinderisch sein, siehe oben: vom Genießen des gebauten Hauses (Ende Strophe
I) zur strahlenden Ostersonne (Anfang Strophe II) – mit gleichem ZSW "gewünscht".
(C) Die Sestine "der
einfacheren Art"
Wir
entwickeln sie aus der Vorstufe "Quartine" von Teil 1(3), indem wir
zwei weitere ZSW hinzunehmen.
● mit
diesen nun insgesamt 6 ZSW ergibt sich das Format zu 6x6+6/2=39 Versen, die in
6 Strophen zu je 6 Zeilen und eine abschließende Geleitstrophe von drei Zeilen
gegliedert sind.
● in jeder Strophe kommen alle 6 ZSW vor,
und zwar im Hauptteil nur an den Versenden, im Geleit je zwei pro Vers: eines in
der "vorderen Hälfte", das andere wieder strikt am Versende.
● der
Rhythmus fordert unbetonte Versanfänge bei Verslängen von 10/11 Silben (also
jambisch und wie beim Sonett).
● die Verse
müssen nicht gereimt sein (sind es auch meistens nicht), dürften es aber – und
bei uns reimen sich ja auch Gesumm
und Gebrumm.
● das
"Durchschieben der ZSW nach unten"
im Hauptteil geht bei der "einfacheren Sestine-Art" nach folgendem
Schema vor sich:
Nummeriert
man die ZSW der Strophe (I) durch, so gilt:
(I)
1,2,3,4,5,6 → (II) 6,1,2,3,4,5 → (III) 5,6,1,2,3,4 → (IV) 4,5,6,1,2,3 →
(V)
3,4,5,6,1,2 → (VI) 2,3,4,5,6,1.
● mit den von uns gewählten sechs
ZSW – die früheren 4 Substantive und noch ein Adjektiv ("~gefährlich")
und ein Verb ("~kommen") – legen wir dieses Schema in der folgenden
Weise fest:
Biene, Gesumm, ~gefährlich, Hummel,
Gebrumm, ~kommen →
~kommen, Biene, Gesumm, ~gefährlich,
Hummel, Gebrumm →
Gebrumm, ~kommen, Biene, Gesumm, ~gefährlich,
Hummel →
Hummel, Gebrumm, ~kommen, Biene, Gesumm,
~gefährlich →
~gefährlich, Hummel, Gebrumm, ~kommen,
Biene, Gesumm →
Gesumm, ~gefährlich, Hummel,
Gebrumm, ~kommen, Biene.
● Anm.: Die
Tilde steht für andere Vorsilben, z. B. in unterkommen; ungefährlich.
Titel gibt es noch keinen … oder
doch?
Voll Reiz
ist stets der Flug der schlanken Biene,
die sich
so leicht verrät durch ihr Gesumm,
doch wer
empfindet das denn als gefährlich?
Dagegen
torkelt fast die dralle Hummel,
vernehmbar
ist ihr lustvolles Gebrumm,
dem aber will
man erst einmal entkommen!
Man sieht
sich um nach einem Unterkommen,
denn niemand
denkt dabei an eine Biene
und ihr bekanntlich
reizvolles Gesumm.
Das hier
scheint sicher nicht ganz ungefährlich
und hört
sich durchaus an nach einer Hummel:
es geht
massiv aufs Ohr, solch ein Gebrumm!
Warum fliegt
sie mit solch einem Gebrumm –
fast
schon Gewitter, das im Näherkommen ...
Mir wär'
viel lieber jede Honigbiene,
die raffiniert
vertraut auf ihr Gesumm.
Ich will
es überhaupt nicht so gefährlich
und habe
kein Verlangen nach der Hummel!
Doch langsam
denk ich mich hinein, du Hummel,
und finde
voller Lüste dein Gebrumm.
Wärst du am
Ende mir vielleicht willkommen,
wie sonst
gewöhnlich nur die schlanke Biene?
Verzichte
ich vielleicht mal auf Gesumm
und lebte
ausnahmsweise mehr gefährlich?
War's denn
nicht relativ, dies "zu gefährlich",
das mich vermeiden
ließ so jede Hummel?
Und mich
auf einmal packt nun dies Gebrumm?
Dem will ich
endlich auf die Schliche kommen –
versteckt
sich Anderes als bei der Biene
mit ihrem
ewig gleichen Wohlgesumm?
Ist es
nicht einerlei, dass gilt Gesumm
gemeinhin
doch als ziemlich ungefährlich,
zumindest
im Vergleich mit einer Hummel
und deren
durchaus lüsternem Gebrumm?
Wem es
bestimmt jedoch, zu Fall zu kommen,
ist es
egal, ob Hummel oder Biene!
Wie einer
Biene / reizvolles Gesumm
gefährlich
werden kann, / wird auch die Hummel
durch ihr
Gebrumm / zu mancher Beute kommen.
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6:
u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
1+2:
u-u-u-u-u-
3+4: u-u-u-u-u-u
5+6: u-u-u-u-u-u
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● Da die 6
ZSW unterschiedliche Betonung tragen, kommt es zu wechselnden Verslängen von
10/11 Silben;
● Das in
den Folgestrophen geltende Schema der ZSW-Anordnung wird eingehalten; die Strophen haben deshalb weiterhin wechselnde Verslängen.
● Die
Geleitstrophe ist 3-zeilig; sie setzt die ZSW in der Abfolge von Strophe (I)
ein. Dadurch kommt es auch hier zu wechselnden Verslängen.
● In dieser
Geleitstrophe steht nur das "linksseitige" ZSW "Biene" vers-mittig.
●
Ausnahmsweise ist hier zur Sestine rechtsbündig die Metrik zur Verdeutlichung
angegeben.
© elbwolf (W.H., 7.11.2017,
bearbeitet)
/nach einem
Vortrag des Verfassers am 12.8.2010 an der Schwabenakademie Irsee/
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