Samstag, 21. November 2020

Bekämest du ein zweites Leben … /Sonett/

Holzschnitt aus Camille Flammarion: L'Atmosphere - Météorologie Populaire (1888).
col.: Heikenwaelder Hugo, Wien 1998; via Wikimedia Commons; Liz.: CC BY-SA 2.5.

 

Betrachtung der Zeit
Mein sind die Jahre nicht, die mir die Zeit genommen;
Mein sind die Jahre nicht, die etwa möchten kommen;
Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht,
So ist der mein, der Jahr und Ewigkeit gemacht.

Andreas Gryphius (publiziert p. m. 1698)

 

  Bekämest du ein zweites Leben … 

– englisches Sonett –

Unmerklich geht die Zeit, jedoch prophetisch
erinnernd stets, sie sei nicht umkehrbar;
wenn du sie rückwärts drehtest, hypothetisch,
wär nicht ein zweites Leben schön fürwahr?

Du grübelst lange über diesen Fragen
befindest schließlich mit Entschiedenheit –
manch Umstand würdest du erneut ertragen,
verhieltest dich genau wie seinerzeit.

So lehrt das Leben dich nicht auszuweichen;
nach Umkehr stünde dir der Sinn nicht sehr;
du ließest manches Mal etwas verstreichen,
in andrem ändertest du dein Begehr.

Doch jeden seltenen Moment an Glück,
den hieltest du als Kostbarkeit zurück.

© elbwolf (27.11.2009; geändert 22.10.2020)

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Anmerkungen zu Bild und Motto:

● Es ist nicht einfach, eine Illustration zum Thema zu wählen, für dessen philosophisch-mystische Seite natürlich Reinkarnation und Auferstehung in Betracht kämen. Da aber hier doch das Spekulative überwiegt, scheint mir, der Neugier auf alles noch Unentdeckte nachzugeben, ein durchaus passendes Motiv zu sein. Deshalb also die Wahl von Flammarions Holzstich gen. 'Der Wanderer am Weltenrand' (1888); ich sehe ihn im Kontext der rationalen Überprüfung von Weltanschauungen, also im Kontext der Aufklärung.
/ → Wikimedia Commons /

● Gryphius' Vierzeiler 'Betrachtung der Zeit' als Motto zu wählen, fand ich unwider­stehlich, als mir die Ausgabe 'Deutsche Dichtung des Barock' (Hg. Hederer) für den Europäischen Buchklub (liz./© Hanser Verlag, 1965) in die Hände kam (dort S. 87).
Andreas Gryphius (eigentlich Greif; 1616-64, Glogau) stand als Syndikus in den Diensten der Stände des schlesischen Fürstentums Glogau. Er gilt als Lyriker und Dramatiker, bezeichnete sich selbst als Philosoph und Poet. Quelle für das Kurz­gedicht ist wahrscheinlich die erst post mortem erschienene Ausgabe seiner "um ein merkliches vermehrte Teutsche Gedichte" des Verlags Fellgiebelische Erben,1698.

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