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Jean-Léon
Gérôme (1824-1904): Diogenes von Sinope (404-323 v.u.Z); Gemälde von 1860.
Standort: Walters Art Museum, Baltimore; via
wikimedia.commons; Public domain (~ to OTRS)
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Notabene
→ zunächst eine Wiederholung des einleitenden Absatzes
aus dem vorherigen Beitrag ←
Die Fatrasie wurde schon im 13. Jh. von den Franzosen als
Nonsens-Lyrik kreiert, erhielt bald im Fatras eine Erweiterung (der wir unten
unser volles Augenmerk widmen), wurde nie ganz vergessen und erfährt heutzutage
so etwas wie eine Neubelebung.
Sie ist ein 11-zeiliges Gedicht, das in zwei
ungleiche Absätze (keine eigentlichen Strophen also) geteilt ist, durchgängig
mit nur zwei Reimsilben (a, b) auskommt und diesem Reimschema folgt:
aabaab babab
Zur a-Reimsilbe
werden also 4+2 Reimwörter, zur b-Reimsilbe 2+3 Reimwörter gebraucht – eine
Erschwernis, der ein Amateur-Poet wohl nur mit einem guten Reimlexikon
gewachsen ist.
Außerdem wird verlangt, dass im Anfangs-Absatz die Verse kurz sind (nur
5-Silber), im Schluss-Absatz länger (5-7-Silber; Standard: 7). Die Rhythmik
selbst scheint freigestellt, wobei Regelmäßigkeit einem Gedicht meistens
guttut. Die kürzeren Verse haben daher 2 oder 3 Hebungen, die längeren des
Schlussteils 3 oder 4 – was Verfassern entgegenkommt, denen die Metrik
"nicht liegt". Wir verdeutlichen das bei unseren heutigen beiden
Hauptbeispielen dadurch, dass wir ausnahmsweise zu den Versen das volle
"Kodierungsschema" angeben.
Inhaltlich müssen heutige Fatrasie und Fatras durchaus kein Klamauk sein, aber
auch nicht von jener obszön-skatologischen Art, wie einst üblich. Schon ab 15. Jh. wurde unterschieden
zwischen "unmöglichen", irrationalen Fatrasien/Fatras und "möglichen",
die sogar religiös-erbauliche Inhalte aufwiesen.
Die Literaturwissenschaft vermutet in Fatrasie/Fatras eine
der Wurzeln der modernen Dichtung und der absurden Literatur.
Als Überleitung zum
Fatras seien noch ein einmal die beiden Fatrasien-Beispiele aus dem vorhergehenden
Beitrag angedeutet:
Spiele
verfolgen Ziele
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Diogenes in
der Tonne
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Gewisse Spiele
sind kleine Ziele
…
…
nur hängen und erbeben -
's erfordert manche
Schwiele.
/@lillii/
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a: u-u-u
a: u-u-u
b: …
b: …
a: u-u-u-u
b: u-u-u-u
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Im Schutz der Tonne,
erfüllt von Wonne –
…
…
marschiert
man in Kolonne.
Alles
– nur nicht ferngelenkt!
/@elbwolf/
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a: u-u-u
a: u-u-u
b:
…
b:
…
a: u-u-u-u
b: -u-u-u-
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Und damit zum Fatras:
Am einfachsten ist,
sich vorzustellen (und am schwierigsten es zu machen!), dass ein Fatras aus
einer Fatrasie entsteht, wenn man deren ersten a-Vers (Vers-1) mit ihrem letzten b-Vers (Vers-11) ohne Änderungen zusammenfügt
und dieses (natürlich nicht-reimende) Verspaar (= Distichon) den sonst unveränderten
11-Zeilen noch einmal wie ein "Start-Up" voranstellt.
Ausgerechnet von
diesem Distichon wird nun Sinnfälligkeit verlangt, während man vom Vers-2 bis
zum Vers-10 des "inneren Teils" der ursprünglich eigenständigen Fatrasie
beliebigen Nonsens hinschreiben dürfte.
Es ist sofort
einzusehen, dass man keine der beiden obigen Fatrasien zu Fatras aufwerten
kann, denn die fraglichen Distichen wären einfach unverständlich, wären Quatsch,
also Nonsens²:
Gewisse Spiele
's erfordert manche
Schwiele.
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A: u-u-u
B: u-u-u-u
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Im Schutz der Tonne
alles
– nur nicht ferngelenkt!
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A: u-u-u
B: -u-u-u-
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Und tatsächlich beginnt man ein Fatras durch Hinschreiben
eines sinnvollen Distichon, zwischen dessen beide Zeilen man nach dem
Reimschema und den Verslängen-Vorschriften eine Versfolge einbaut, die vom
A-Vers zum B-Vers führt, auf welchen verschlungenen Ideen und Gedankengängen
auch immer. Sehr oft parodiert dieser
Inhalt das verneweg stehende Distichon.
Die Reimfolge für
einen Fatras als Ganzes gibt man
übrigens in der folgenden Form an, bei der A, a und B, b jeweils die lautmäßig gleiche
Reimsilbe bedeuten:
AB Aabaab babaB
Die
Diogenes-Fatrasie lautet, umgeschriebenen zum Fatras Version 2.0:
Diogenes in der Tonne 2.0
In einer Tonne
fühlte man sich eingezwängt.
In einer Tonne
sitzt voller Wonne
Diógenes; denkt:
brauch weder Sonne
noch eine Bonne
und nichts, was mich drängt!
Wer ins Grübeln sich versenkt,
marschiert nicht in Kolonne,
die ihn rundum nur beschränkt.
Bis wohl nur auf die Nonne
fühlte man sich eingezwängt.
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A: -uu-u
B: -u-u-u-
A: -uu-u
a: -uu-u
b: u-uu-
a: -uu-u
a: -uu-u
b: u-uu-
b: -u-u-u-
a: u-u-u-u
b: -u-u-u-
a: -u-uu-u
B: -u-u-u-
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Geist und Natur
Es wandelt Natur
richtig sinnlich –
voller Geist.
Es wandelt Natur
vor allem zur Kur
auf Abwegen meist.
Wer das je erfuhr
sah nicht auf die
Uhr
ist lieber
entgleist.
Ist Natur zudem
noch dreist,
mag sie es vor
allem pur:
Wem sie jemals das
verheißt,
mit dem geht sie
in die Spur,
richtig sinnlich –
voller Geist.
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A: u-uu-
B: -u-u-u-
A: u-uu-
a: u-uu-
b: u-uu-
a: u-uu-
a. u-uu-
b: u-uu-
b: -u-u-u-
a: -u-u-u-
b: -u-u-u-
a: -u-u-u-
B: -u-u-u-
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© elbwolf (03.02.2019)
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PS:
"Liebhaber" dürften schnell Möglichkeiten finden, diesen Text als
Vorlange für erheblich "pikantere" Varianten zu nehmen – wofür mir
hier ja der Platz fehlt …
./.
Die Spiele-Fatrasie
lautet, umgeschriebenen zum Fatras Version
2.0:
Spiele verfolgen Ziele 2.0
Lust an den Spielen –
bis der Spaß sich ausgelebt.
Lust an den Spielen,
die stets gefielen
und die man erstrebt?
Da brauchts kein Dealen
oder Sichsielen –
so schnell wird erlebt.
Anfangs wird ein Plan gewebt,
bis man weiß, auf was zielen.
Wenn die Stimmung sich dann hebt,
wird die Lust zur skurrilen –
bis der Spaß sich ausgelebt.
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A: -uu-u
B: -u-u-u-
A: -uu-u
a: -uu-u
b: u-uu-
a: u-u-u
a: -uu-u
b: u-uu-
b: -u-u-u-
a: -u-u--u
b: -u-u-u-
a: -u--u-u
B: -u-u-u-
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© lillii (Luzie-R.,
05.02.2019)