Hier schreiben Hobbydichter für Lyrik-Freunde – meist Gereimtes und nur Druckreifes! Willkommen also, viel Vergnügen mit unseren Gedichten und deren Bebilderung!

Aufrufe unseres Blogs erfolgen automatisch mit Sicherheitsprotokoll "https". Am 18. Mai 2022 hatten wir unseren 600. Beitrag in den Blog gestellt!

Bereits seit Jahresbeginn bringen wir neue Folgen an Kalenderblättern und Monatsbildern. Darum herum dann das, was sich an Einfällen so ergibt – man wird sehen! Nun ja, was man auch sieht: wir "unterschlagen" seit einer ganzen Weile auch einen gewissen Anteil an sanfter Erotik nicht länger - die Zeiten sind eben so ...

Wir teilen den Lesern unseres Versbildners mit und bitten um Verständnis, dass wir auch weiterhin das monatliche Angebot auf 6 Beiträge beschränken - die Kontaktarmut dieser Zeit bringt leider auch eine gewisse Ideenarmut mit sich. Neueinstellungen erfolgen damit um die Kalendertage des 1., 6., 11., 16./17., 21./22., 25.-27. eines Monats.

Dienstag, 28. November 2017

Das Glück der Vollschlanken (Limericks, im Team geschrieben)

Arthur Thiele (1860-1936) – Thieles Œuvre ist gemeinfrei –
 deutscher Kunstmaler, Maler, Zeichner, Aquarellist, Illustrator und Dekorationsmaler.
(nur Repros von Postkarten mit Firmennamen sind evtl. durch © geschützt)
./.
Auf Deutsch ist als Inschrift verbreitet. "Sie konnten zusammen nicht kommen",
auf Polnisch dagegen: ~ "Sie schwammen im Glück und tranken die Lust von ihren Lippen".

Vollschlanke – Wege und Auswege

● zu den Ursachen

Es liebten die beiden das Essen
und waren darauf wie versessen.
Sie wollten aufs Küssen
verzichten nicht müssen,
doch schien das nicht mehr im Ermessen.
                                                                     lillii
● was dann kam

Sie können zusammen nicht kommen,
da hilft auch kein Flehen der Frommen.
Sie packt ihn am Kragen;
er soll es doch wagen –
sie hätte ihn gerne genommen.
                                                                     lillii

● wie es schlecht endete

Sie waren halt beide zu dick –
in diesem Fall war das nicht schick;
und weil sie so rund
und dazu auch bunt,
da gabs für die beiden kein Kick.
                                                                     protes' Kommentar
         
● wie es gut endete

Wo manche schon längst nichts mehr wagen
beschlossen sie, nicht zu verzagen:
sie standen in Flammen
und fanden zusammen –
voneinander entzückt, sozusagen.
                                                                             elbwolf

Arthur Thiele (1860-1936) – "Ein wirklicher Kavalier" (Postkarten-Motiv).

● eins draufgesetzt!

Noch schöner ist's freilich zu dritt –
zwei Damen nimmt "Gockel" sich mit
und bietet mit Charme
gleich jeder den Arm.
Der Schirm zählt zum eignen Habit:
          so bleiben nicht trocken
          den Damen die Locken
bei Regen – und Kleider nicht fit –
ja … brauchen sie die noch en suite?
                                                                     elbwolf
-------------------------------------------------------------------
Dies hier ist lediglich als eine Fingerübung im Limerick-Schreiben anzusehen, wobei die letzte Strophe einen sog. Spiegel-Limerick darstellt.
Dem Urheber dieser Postkarten, Arthur Thiele, ist ein Wikipedia-Eintrag gewidmet.

Samstag, 25. November 2017

Mundart-Verse (8) – Südthüringer Itzgründisch (Arthur Schmid †; Günter Langhammer als Gast)

Notabene: Fortsetzung der losen Folge von Gedichten, die ihre Verfasser/Innen in Mundart geschrieben haben. Der Begriff mag für Sprachwissenschaftler etwas unscharf sein – hier steht er für Gedichte, die man in solcher "Würze" nur in "Regionalsprachen" findet. Auch sind sie den formalen poetischen Auflagen durch das Hochdeutsche weit weniger (oder nicht) verpflichtet.
Für Unkundige, die gar manches Mal "begriffsstutzig" sein würden, gibt es eine hochdeutsche Übertragung oder eine Reihe von Worterklärungen.
Sonneberger Panorama im Herbst, Aufnahme: 10.10.2008.
Urheber: Holger Mohaupt; Quelle: wikimedia.commons; Liz.: CC BY-SA 3.0


Arthur Schmid (Heßberg b. Hildburghausen; 1898-1952)


Die Hauptsach
(Quelle: siehe die nachfolgend angegebene Anthologie, S. 113)

Guck! Namm dirsch net so arg ze Harzn:
Es wärd schö widdr warn.        
Es gitt halt net bloß süße Mandl,
es gitt ah bittre Karn!

Denn siehste, wenn ichs racht bedenk
un mei Betrachtns hah:
Es greuft än jedn von uns armn
Karl manchmal richtig ah!

Ich mään: Es hat a jeder was,
was  ne so richtig wörcht!
Ich aber denk: Nu grade net!
Nu grad wärd sich net gförcht!

Was hilfts denn ah? M'r könne uns
gekümmer un gehärm;
un wenn m'r alles zammeschlagn
un 's gitt än Heidenlärm:

Davoh, da ändert sich doch nix!
Mir müssn annerscht mach!
Vonn inne raus – v'rstehste mich? –
da wärds ä annre Sach!

Drüm sag ich: Namms net gar so arg!
Es wärd schö widder warn:
Die Hauptsach bleit, daß du net bloß
ä Schaln hast – ah än Karn.
Schau! Nimms dir nicht so sehr zu
Es wird schon wieder werden.   \ Herzen:
Es gibt halt nicht bloß süße Mandeln,
es gibt auch bittre Kerne!

Denn siehst du, wenn ich's recht bedenk
und meine Ansicht habe:
Es setzt einem jeden von uns armen
Kerlen manchmal richtig zu!

Ich meine: Es hat jeder was,
das nicht so richtig läuft!
Ich aber denke: Nun erst recht!
Jetzt grade wird sich nicht gefürchtet!

Was hilfts denn auch? Wir können uns
bekümmern und härmen;
und wenn wir alles zusammenschlagen
und 's gibt einen Heidenlärm:

Davon, da ändert sich doch nichts!
Wir müssen 's anders machen!
Von innen raus - verstehst du mich? -
da wird’s eine andere Sache!

Drum sage ich: Gib nicht so viel drauf!
Es wird schon wieder werden:        / bloß
Die Hauptsache bleibt, dass du nicht eine Schale hast – auch einen Kern.

Anm.: siehe den Disclaimer am Ende des gesamten Beitrags!


Günter Langhammer (Haselbach, jetzt OT von Sonneberg; geb. 1937)


Wos mir ells ham
(Quelle: Anthologie, S. 134)

Was wir alles haben


Wir ham uns en Winter eigefange
un in weiße Gefriertruhn gesperrt.
Er liefert uns fresche Erdbeer un junge Erbsen raus
und Fläsch, Fläsch, sehr viel Fläsch.
Jetzt brauchen wir en Weihnachtsbroten nimmer
vursch Fanster zu hänge, deß er sich ja hält.

Wir ham en Bach a neis Bett gegossen.
Es is schnurgerod un aus Beton.
Jetzt brauchen mer kä Angst mehr zu ham,
deß Hochwasser die Wies ieberschwemmt.
Die drei Kopfweiden stunne ower im Wag.

Wir ham uns Farbfernseher gekäft.
Jetzt brauchen wir ner nuch auf Tasten zu drecken
un sahn, wenn se in Amerika boxen un in
                                                  Japan Fußball spieln.
Unnern Spartplatz mißten se meh
un die zwee Tor reparier.

Mir ham's besser.
Ower hammersch ah schänner?
den Winter eingefangen


Fleisch
Weihnachtsbraten
vors Fenster zu hängen

dem Bach ein neues Bett
schnurgerade
keine Angst

standen aber im Wege

gekauft
nur noch ~Tasten zu drücken
und sehen

Unsern Sportplatz müssten
                              \ sie mähen

Wir haben es besser.
Aber haben wir's ~ schöner?

© Günter Langhammer; Wiedergabe erfolgt mit ausdrücklicher Erlaubnis des Autors!

./.
Die Autoren unseres November-Beitrags haben uns auch viele Jahre nach der Erstveröffentlichung ihrer Verse noch etwas zu sagen – kluge Worte wirken eben lange nach!
Leider sind manche Spuren der Dichter – bis eben auf die durch das gedruckte Buch übermittelten – verblasst. Für eine Mundarten–Anthologie, verlegt 1990 im Greifenverlag (s. Abb.!), konnte der Mitarbeiter der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Erforscher thüringischer Mundarten, Heinz Sperschneider (1927-2009), damals schon als Herausgeber nur wenige Lebensdaten erheben.

Arthur Schmid (1898-1952) war in Heßberg bei Hildburghausen ansässig. Er war Lehrer an verschiedenen Schulen in der Umgebung. Ihn führt der heutige  Thüringer Literaturrat im Verzeichnis seiner Autoren mit einer ansehnlichen Reihe von Werken auf.

Günter Langhammer wurde 1937 im heutigen OT Haselbach der Kreisstadt Sonneberg geboren. Er war Fachlehrer für Deutsch, ging 1990 in Vorruhestand. Er veröffentlichte Beiträge in itzgründischer Mundart, meist in Anthologien, zuletzt in einer von 2007, die in Sonneberg erschien, und 2014 in einem Band des Arbeitskreises "Mundart Südthüringen e.V." Der Thüringer Literaturrat führt Günter Langhammer ebenfalls in seinem Autorenverzeichnis.
./.
Einen Überblick über die Verbreitungsgebiete der thüringischen Mundarten, darunter des Itzgründischen um Hildburghausen und Sonneberg, gibt ein Beitrag in der Wikipedia wieder. Namensgeber für diesen mainfränkischen Dialekt ist die Itz, ein rechter Nebenfluss des Mains in Thüringen und Oberfranken; gesprochen wird der Dialekt in den Tälern der Itz und ihrer Zuflüsse.

Disclaimer
Die Betreiber von "Versbildner" erklären, dass angesichts der beiden Umstände – (1) der Greifenverlag hörte 1992 nach Insolvenz auf zu exstieren und sein Verlagsarchiv wurde auf der Heidecksburg/Rudolstadt eingelagert und (2) der Anthologie-Herausgeber Sperschneider verstorben ist – eine Gestattung für das erste der zwei wiedergegebenen Gedichte nicht beizubringen war. "Versbildner" würde aber auf einen berechtigten Anspruch hin das Gedicht unverzüglich von seiner Webseite entfernen – wenn auch mit Bedauern.

Dienstag, 21. November 2017

Vier-Säfte-Lehre (Heliane Meyer als Gast)


Vierteiliges Bühnenbild für die Posse "Das Haus der Temperamente" von Johann Nestroy *)
Kolorierter Kupferstich von Andreas Geiger nach Johann Christian Schöller, 1838.
( Quelle: wikimedia.commons; Liz.: gemeinfrei )

Vier-Säfte-Lehre  **)

„Es gehen vier Menschen gemütlich spazieren,
sind freundlich und umgänglich beim Diskutieren,
erörtern die Welt, unsern Gott und die Sterne
und sehen erstaunt einen Fels in der Ferne.

Sie nähern sich vorsichtig, möchten gern weiter.
Der erste springt drüber, bleibt fröhlich und heiter,
der zweite umgeht ihn im größeren Bogen,
der dritte verzweifelt und fühlt sich betrogen.

Der vierte gerät in verbiestertes Wüten,
liest zeternd und rasend dem Stein die Leviten,
versucht, ihn mit Kraft aus dem Wege zu stoßen,
den schweren und störenden Felsen, den großen.“

Galenos aus Pergamon sah das Geschehen,
wollt gerne die Handlungen besser verstehen.
Er suchte und fand schließlich wichtige Säfte,
die täglich bescheren uns Schwächen und Kräfte.

Entdeckte im Blute das heitere Wesen,
ein aktives Sein ohne Erbsen zu lesen;
im Schleim große Faulheit und schwerfällig Sinnen
nebst fehlendem Antrieb, den Tag zu beginnen.

Im schwärzlichen Gallensaft fand er die Trauer,
ein Dasein, umgeben von trutziger Mauer;
im gelben hingegen ein Schreien und Wüten,
die Blindheit, das Wichtige gut zu behüten.

So teilte Galenos in vier Charaktere
und schuf die bedeutsame Flüssigkeitslehre.
Es sagen die Jahre und Forschung inzwischen,
dass unsere Säfte sich meistens vermischen.

© Heliane Meyer (24.02.2016; im "Musengarten" erstveröffentlicht)
© für die Vignette: Heliane Meyer
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*) Es bewohnen
das blaue Zimmer eine Sanguiniker-Familie, das gelbe Zimmer – Phlegmatiker,
das graue Zimmer – Melancholiker, das rote Zimmer – Choleriker.

**) Die Vier-Säfte-Lehre war die Grundlage für die Humoralpathologie, eine bereits in der Antike aufgestellte (später von Galenos systematisiert dargestellte) und bis ins 18. Jh. allgemein anerkannte Lehre von den Körpersäften (lat. humor = Feuchtigkeit, Körper- oder Leibessaft), deren richtige Mischung Gesundheit bedeute, ihr Ungleichgewicht aber Krankheit verursache. Von ihr leitet sich die Temperamentenlehre ab, ein Persönlichkeitsmodell, das Menschen nach ihrer Grundwesensart einteilt. (nach Wikipedia)
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Heliane Meyer
Der Gast unseres Beitrags ist eine Berlinerin. 
Schon als kleines Mädchen "überkam" Heliane das Reimen auf Situationen ihrer Umgebung. Dann im Jahr 2007 schloss sie sich einem Gedichteforum im Internet an, in dem sie 2012 eine Gruppe gleichgesinnter Dichterinnen und Dichter gründete – "Die Glühbirnen". In wechselnder Zusammensetzung beschäftigt sich die Gruppe neben modernen auch mit klassischen Strophenformen und hat bereits fünf Sammlungen eigener Gedichte herausgegeben.
Seit 2013 besteht mit dem "Musengarten" ein eigenes Gedichteforum als Treffpunkt für Sprachbastler, Hobbydichter und erfahrene Autoren, das Gäste wie Mitglieder willkommen heißt, und das Heliane Meyer mit Unterstützung der "Glühbirnen" verwirklicht hat.
 © für Vignette; auf fotografische Ähnlichkeit hat Heliane keinen Wert gelegt!

Freitag, 17. November 2017

November – ein Monatsbild

Gerard Horenbout u. a.: Breviarium Grimani, Monatsbild November (Buchmalerei/Pergament, ~1510)
Standort: Nationale Markusbibliothek, Venedig; Quelle: wikimedia.commons; gemeinfrei.
Der November diente in weiten Teilen Deutschlands noch der Schweinemast: die Schweine
 wurden in den Wald getrieben, um sich an Eicheln, Bucheckern und Kastanien vollzufressen.
Noch heute erkennt man solche alte "Hutewälder" an ihrem Eichen- und Buchenbestand.

November – ein Monatsbild

November, auch der Nebelmond genannt,
hat längst schon angezogen grau Gewand.
                                                 ./.
Die Schweine hat man in den Wald getrieben
weil sie Kastanien wie auch Eicheln lieben.
Gemästet war das Vieh ein Leckerbissen,
um den sich selbst die Adelsleute rissen.

Der arme Mann verkam zum Fallensteller,
mit leerer Vorratskammer, leerem Keller:
durch Not gezwungen wurde er zum Diebe.
Und hatte Glück, bezog er nur die Hiebe.

Am Martinstag war Zahltag für die Pachten –
die Armen zahlten – und blieben die Verlachten.
Gedanken gehen noch zu unsren Ahnen,
die an das eigne Ende uns gemahnen.
                                                 ./.
So geht das Jahr, schon naht sich der Advent;
am Kranze bald die erste Kerze brennt.

© lillii (L-R., 07.11.2017)
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○ Link auf eine populäre Darstellung des November in mittelalterlicher Zeit.
○ Link auf eine Sammlung Lyrik- und Prosa-Titel über den November.

Dienstag, 14. November 2017

Die Sestine: (3/3) – in vollendeter Art

(A) Das Anliegen

Die Sestine gilt in jeder Spielart als schwierig – zumindest "beim ersten Male".
Im Deutschen wurde sie zunächst von Martin Opitz nachgebildet, dann hat sich Schottel ihrer angenommen; auch die Schäferstündchen-Dichter haben sie "gebraucht". Dann brachten sie die deutschen Romantiker unter das Volk, und eigentlich sollte im nächsten Absatz die (einzige) Sestine Joseph Frhr. von Eichendorff's stehen, die zu ihrer Zeit tüchtig Furore gemacht hatte. Aber auch das Genie Eichendorff hat Regeln und Rhythmus nicht eingehalten – und so haben wir Friedrich Rückert das Feld überlassen!
Wer den Einstieg ins Format der Sestine über die zwei Vorstufen mit weniger Versen (also nur 2 oder 4 ZSW) und über die volle Sestine mit "6 durchgeschobenen ZSW" verinnerlicht hat, verfügt über alle Chancen, auch hier zurechtzukommen – wenn die Sestine in der Fassung "non plus ultra" vorgestellt und abgehandelt wird! 
Zur Abb.:
Friedrich Rückert (1788-1866), Carte de Visite (1876) nach einem Gemälde von B. Semptner.
Reproduktion G. J. Radig (2009).  Quelle: wikimedia.commons; Liz.: gemeinfrei.

(B) Rückert's Sestine – ein Beispiel in vollendeter Art

Hier also das Einführungsbeispiel zur vollendeten Sestine – vom wohl produktivsten deutschen Dichter des 19. Jh. – heute weitgehend vergessen:

Friedrich Rückert: Sestine (aus den italienischen Gedichten):
Wenn durch die Lüfte wirbelnd treibt der Schnee.
Text nach der Ausgabe im Verlag J. D. Sauerländer, Frankfurt/M., 1841.
Anm: Im Internet ist nur das Google-Faksimile von Rückert's Gedicht fehlerfrei!

Wenn durch die Lüfte wirbelnd treibt der Schnee,
Und lauten Fußtritts durch die Flur der Frost
Einhergeht auf der Spiegelbahn von Eis;
Dann ist es schön, geschirmt vorm Wintersturm,
Und unvertrieben von der holden Glut
Des eignen Herds, zu sitzen still daheim.

O dürft' ich sitzen jetzt bei der daheim,
Die nicht zu neiden braucht den reinen Schnee,
Die mit der sonn'gen Augen sanfter Glut
Selbst Funken weiß zu locken aus dem Frost!
Beschwören sollte sie in mir den Sturm,
Und tauen sollte meines Busens Eis!
. . .
1: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-

6: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-
. . .

An Rückert's Beispiel einer Sestine können wir als wirkliche Neuerung den Umgang mit den Zeilenschlussworten (ZSW) in den Folgestrophen erkennen, denn sonst ändert sich an ihrem Aufbau nichts weiter.
● sie hat 6 Strophen (gezeigt sind  hier nur die ersten beiden) zu je 6 Versen;
● die Metrik ist jambisch und 10/11-silbig. Ausnahmsweise ist hier zur Sestine rechtsbündig die Metrik zur Verdeutlichung angegeben.
● es werden 6 ZSW gebraucht, und Rückert verwendet neben 5 Substantiven nur eines einer anderen Wortart – ein bisschen schade!
● die ZSW reimen nicht – hier jedenfalls tun sie es nicht, könnten es aber.
● das Verfahren für die Anordnung der ein für allemal feststehenden ZSW in den Folgestrophen ist bei einer "Sestine in vollendeter Art" ein komplizierteres Verfahren, als nur das bloße Durchschieben der ZSW nach unten.
Zwar wird in jeder Strophe zunächst durchgeschoben und das aus der untersten (sechsten) Position hinausgeschobene ZSW in der jeweiligen Folgestrophe als oberstes gesetzt,  a b e r  die anderen vier ZSW werden systematisch auf ihren Plätzen vertauscht /die Regel wird in (C) angegeben/.
● Herausforderung wie Chance scheinen nach wie vor gute Übergänge zwischen den Strophen zu sein – da kann der Dichter erfinderisch sein (siehe oben die Handhabung von "daheim").
Doch davon abgesehen, wird dem Sestine-Dichter zugemutet, viel umsichtiger seine ZSW zu wählen und viel lockerer mit ihnen umzugehen, weil er in einer Folgestrophe kaum Ansatzpunkte findet, die Ideen aus der Abfolge in der vorherigen Strophe "bloß ein wenig abzuwandeln"!

(C) Die Sestine "in vollendeter Art"

● Mit ihren wieder 6 ZSW ergibt sich ihr Format zu 6x6+6/2=39 Versen, die in 6 Strophen zu je 6 Zeilen und eine abschließende Geleitstrophe von drei Zeilen gegliedert sind;
in jeder Strophe kommen alle 6 ZSW vor, und zwar im Hauptteil nur an den Versenden, im Geleit je zwei pro Vers: eines in der "vorderen Hälfte", das andere wieder strikt am Versende;
● der Rhythmus fordert unbetonte Versanfänge bei Verslängen von 10/11 Silben (also jambisch und wie beim Sonett);
● die Verse müssen nicht gereimt sein (sind es auch meistens nicht), dürften es aber;
● das "Durchschieben der ZSW nach unten mit Umstellen der restlichen" erfolgt im Hauptteil bei einer "Sestine der vollendeten Art" nach dem folgenden streng einzuhaltenden Schema:
Nummeriert man die ZSW der Strophe (I) durch, so gilt:
(I) 1,2,3,4,5,6 → (II) 6,1,5,2,4,3 → (III) 3,6,4,1,2,5 → (IV) 5,3,2,6,1,4 →
(V) 4,5,1,3,6,2 → (VI) 2,4,6,5,3,1.
● mit den von uns gewählten sechs ZSW – 4 Substantive und zwei Verben – liegt das Schema der ZSW-Umstellungen in folgender Weise konkret fest:
erzählen, ~Text, Verse, Strophen, ~schaffen, Gedicht →
Gedicht, erzählen, ~schaffen, ~Text, Strophen, Verse →
Verse, Gedicht, Strophen, erzählen, ~Text, ~schaffen →
~schaffen, Verse, ~Text, Gedicht, erzählen, Strophen →
Strophen, ~schaffen, erzählen, Verse, Gedicht, Text →
Text, Strophen, Gedicht, ~schaffen, Verse, erzählen.
● Anm.: Die Tilde steht für andere Vorsilben, z. B. beschaffen; Prosa-Text.


Der (ver)zweifelnde Poet

Du möchtest etwas freiheraus erzählen,
das dir zu schade scheint für schlichten Text,
und dächtest drum, du setztest es in Verse?
Nach Regeln bildest du aus denen Strophen,
die ihren Eindruck uns erst dann verschaffen,
wenn du das Ganze vorträgst als Gedicht!

Du meinst, es wäre einfach, im Gedicht
uns einen Inhalt bündig zu erzählen,
obwohl Gedichte das ganz anders schaffen,
als eben so ein bloßer Prosa-Text.
Es zahlt sich aus, weil diese festen Strophen
so gut verwahren die geschliff'nen Verse!

Die Sorgfalt richtet sich zunächst auf Verse –
nach ihnen heißt mitunter das Gedicht –
und Namen geben sie selbst manchen Strophen.
Erst dann geht es so richtig ans Erzählen,
das ist genau so wie bei jedem Text,
nur Aufwand kann man sich damit viel schaffen.

Will man für die ganz eignen Zwecke schaffen,
bedarf es augenscheinlich nicht der Verse:
man setzt sich hin, schreibt nieder seinen Text,
hat auch im Hinterstübchen kein Gedicht –
mag sonst wer Gegenteiliges erzählen:
der Alltag wird nicht eingeteilt in Strophen.

Besonderes fügt sich von selbst zu Strophen,
es ist auf seine eigne Art beschaffen …
Ein guter Schreiber schüttelt beim Erzählen
in einem fort – wie aus dem Ärmel – Verse,
bis er uns hochbeglückt zeigt sein Gedicht
das er für besser hält als jeden Text!

Wer ist so selbstkritisch zu seinem Text
und meint, es ginge diesmal nur in Strophen,
denn offensichtlich sei das ein Gedicht?
Mit dem lässt sich tatsächlich Eindruck schaffen,
man lauscht dir ganz gespannt auf deine Verse …
Ach – hast du wirklich etwas zu erzählen?

Du willst erzählen / bündig deinen Text?         
dann füge Verse / einsichtig zu Strophen –               
sie schaffen, was du suchst / ein gut Gedicht!


1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-

6: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u

3: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-u

5: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u

4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-

2: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u

1+2: u-u-u-u-u-
3+4: u-u-u-u-u-u
5+6: u-u-u-u-u-
     
 ● Da die 6 ZSW unterschiedliche Betonung tragen, kommt es zu wechselnden Verslängen von 11/10 Silben;
● Das in den Folgestrophen geltende Schema der ZSW-Anordnung wird  eingehalten; die Strophen haben deshalb weiterhin wechselnde Verslängen.
Außerdem führt diese Anordnung der ZSW-Betonung zu einer Rhythmusform,
die sich am lebendigsten anhört
● Die Geleitstrophe ist 3-zeilig; sie setzt die ZSW in der Abfolge von Strophe (I) ein. Dadurch kommt es auch hier zu wechselnden Verslängen.
● In dieser Geleitstrophe steht nur zwei der drei "linksseitigen" ZSW (nämlich "erzählen" und "Verse") vers-mittig.
● Wegen der Bedeutung des Abschlussbeispiels ist auch hier zur Sestine rechtsbündig die Metrik der besseren Verdeutlichung wegen angegeben.

© elbwolf (W.H.,12.11.2017)
/ nach dem Material des Verfassers zu einem Vortrag am 12.8.2010 im Lyrik-Seminar des Kultursommers an der Schwabenakademie Irsee /