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Bereits seit Jahresbeginn bringen wir neue Folgen an Kalenderblättern und Monatsbildern. Darum herum dann das, was sich an Einfällen so ergibt – man wird sehen! Nun ja, was man auch sieht: wir "unterschlagen" seit einer ganzen Weile auch einen gewissen Anteil an sanfter Erotik nicht länger - die Zeiten sind eben so ...

Wir teilen den Lesern unseres Versbildners mit und bitten um Verständnis, dass wir auch weiterhin das monatliche Angebot auf 6 Beiträge beschränken - die Kontaktarmut dieser Zeit bringt leider auch eine gewisse Ideenarmut mit sich. Neueinstellungen erfolgen damit um die Kalendertage des 1., 6., 11., 16./17., 21./22., 25.-27. eines Monats.

Mittwoch, 8. November 2017

Die Sestine: (2/3) – in der etwas einfacheren Art

(A) Das Anliegen

Die Sestine gilt selbst in der einfacheren Art (mit lediglich Durchschieben der sechs ZSW = Zeilenschlusswörter) als schwierig. Im Deutschen wurde sie zuerst von Martin Opitz († 1639, Danzig) nachgebildet – trotzdem hat  es bis auf den heutigen Tag keine einzige in den "Kleinen Conrady" (Lauter Lyrik. Eine Sammlung deutscher Gedichte, 2008) geschafft!
Im Conrady fand sich übrigens ein Vers von Christa Reinig (*1926):

hochverehrtes publikum
werft uns nicht die bude um
wenn wir albernes berichten
denn die albernsten geschichten
macht der liebe Gott persönlich

Wer den Einstieg ins Format der Sestine über die zwei Vorstufen mit weniger Versen (nur 2 oder 4 ZSW) verinnerlicht hat, verfügt über alle Chancen, auch hier zurechtzukommen – Herausforderung aber bleibt die Sache natürlich!

Zu Abb. & Buchtitel:
Justus Georg Schottel (latinisiert: Schottelius; *1612; † 1676, Wolfenbüttel).
Titel der Berliner Ausgabe als Taschenbuch in der Edition Holzinger, 2013.
(vollständiger, durchges. Neusatz mit einer Biographie des Autors; derzeit nur antiquarisch verfügbar)

(B) Schottel's "De Sextina" – Beispiel einer Sestine der einfacheren Art

Gern überließen wir J. G. Schottel(ius) auf der Stelle das Feld – aber er dichtet in der Sprache von vor mehr als 350 Jahren! Wir stellen uns also zunächst der Aufgabe, ihn in einem heute verständlichen Deutsch wiederzugeben! Dabei reichen die ersten beiden Strophen, um geltende Regeln zu erkennen (und gleich die Verslängen von den alexandrinischen 12/13 Silben auf übliche jambische 10/11 zurückzunehmen):

Es schleicht sich so dahin, kommt in Verzug,
Eh es sich einstellt, das ersehnte Glück:
Man muss mit Meisterhand und mühsam bauen,
Eh man sein eignes Haus kann ganz besitzen:
Wenn mit Geduld man baut, vertraut hat fest,
Kann man genießen, was man sich gewünscht.

Die Ostersonne strahlt uns wie gewünscht,
Ist hell und klar, war lange in Verzug,
Bringt den Geburtstag her, mit ihm viel Glück,
Erst recht, wenn mit uns Himmelskräfte bauen:
Sie lassen unsern Fürst ein Reich besitzen
Und gründen seinen Herrschaftsanspruch fest.
. . .
1: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-

6: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-
. . .

An Schottel's Beispiel einer Sestine können wir Typisches erkennen:
● zunächst dies: sie existiert noch, und sie ist gut dokumentiert; z. B. bei:
Gerhard Grümmer: Spielformen der Poesie, BI Leipzig, 1985; S. 179/80.
● sie hat 6 Strophen (gezeigt sind die ersten beiden) zu je 6 Versen;
● die Metrik ist jambisch und 10/11-silbig. Übrigens: die Versverkürzung tut gut, aber zu Zeiten des früheren barocken "Geschwafels" nahmen Dichter (wie Schottel) eben gern Zuflucht zu Langversen, um "zu Stuhle" zu kommen.
Ausnahmsweise ist hier zur Sestine rechtsbündig die Metrik zur Verdeutlichung angegeben.
● es werden 6 ZSW gebraucht, und hier sind sogar bloß zwei Substantive  darunter; zwei Verben, ein Partizip (gewünscht) und ein Adverb (fest) – Spitze!
● die ZSW reimen nicht – hier jedenfalls tun sie es nicht.
● das Verfahren für die Anordnung der ein für allemal feststehenden ZSW in den Folgestrophen ist bei der "einfacheren Art einer Sestine" das "Durchschieben der ZSW nach unten": das dabei aus der untersten (hier also immer der sechsten Position) hinausgeschobene ZSW wird in der jeweiligen Folgestrophe als oberstes gesetzt – die Reihenfolge der übrigen fünf bleibt in Bezug aufeinander in der Folgestrophe erhalten!
● Herausforderung wie Chance scheinen gute Übergänge zwischen den Strophen zu sein – da kann der Dichter erfinderisch sein, siehe oben: vom Genießen des gebauten Hauses (Ende Strophe I) zur strahlenden Ostersonne (Anfang Strophe II) – mit gleichem ZSW "gewünscht".

(C) Die Sestine "der einfacheren Art"

Wir entwickeln sie aus der Vorstufe "Quartine" von Teil 1(3), indem wir zwei weitere ZSW hinzunehmen.
● mit diesen nun insgesamt 6 ZSW ergibt sich das Format zu 6x6+6/2=39 Versen, die in 6 Strophen zu je 6 Zeilen und eine abschließende Geleitstrophe von drei Zeilen gegliedert sind.
in jeder Strophe kommen alle 6 ZSW vor, und zwar im Hauptteil nur an den Versenden, im Geleit je zwei pro Vers: eines in der "vorderen Hälfte", das andere wieder strikt am Versende.
● der Rhythmus fordert unbetonte Versanfänge bei Verslängen von 10/11 Silben (also jambisch und wie beim Sonett).
● die Verse müssen nicht gereimt sein (sind es auch meistens nicht), dürften es aber – und bei uns reimen sich ja auch Gesumm und Gebrumm.
● das "Durchschieben der ZSW nach unten" im Hauptteil geht bei der "einfacheren Sestine-Art" nach folgendem Schema vor sich:
Nummeriert man die ZSW der Strophe (I) durch, so gilt:
(I) 1,2,3,4,5,6 → (II) 6,1,2,3,4,5 → (III) 5,6,1,2,3,4 → (IV) 4,5,6,1,2,3 →
(V) 3,4,5,6,1,2 → (VI) 2,3,4,5,6,1.
● mit den von uns gewählten sechs ZSW – die früheren 4 Substantive und noch ein Adjektiv ("~gefährlich") und ein Verb ("~kommen") – legen wir dieses Schema in der folgenden Weise fest:
Biene, Gesumm, ~gefährlich, Hummel, Gebrumm, ~kommen →
~kommen, Biene, Gesumm, ~gefährlich, Hummel, Gebrumm →
Gebrumm, ~kommen, Biene, Gesumm, ~gefährlich, Hummel →
Hummel, Gebrumm, ~kommen, Biene, Gesumm, ~gefährlich →
~gefährlich, Hummel, Gebrumm, ~kommen, Biene, Gesumm →
Gesumm, ~gefährlich, Hummel, Gebrumm, ~kommen, Biene.
● Anm.: Die Tilde steht für andere Vorsilben, z. B. in unterkommen; ungefährlich.

Titel gibt es noch keinen … oder doch?

Voll Reiz ist stets der Flug der schlanken Biene,
die sich so leicht verrät durch ihr Gesumm,
doch wer empfindet das denn als gefährlich?
Dagegen torkelt fast die dralle Hummel,
vernehmbar ist ihr lustvolles Gebrumm,
dem aber will man erst einmal entkommen!     

Man sieht sich um nach einem Unterkommen,
denn niemand denkt dabei an eine Biene
und ihr bekanntlich reizvolles Gesumm.
Das hier scheint sicher nicht ganz ungefährlich
und hört sich durchaus an nach einer Hummel:
es geht massiv aufs Ohr, solch ein Gebrumm!

Warum fliegt sie mit solch einem Gebrumm –
fast schon Gewitter, das im Näherkommen ...
Mir wär' viel lieber jede Honigbiene,
die raffiniert vertraut auf ihr Gesumm.
Ich will es überhaupt nicht so gefährlich
und habe kein Verlangen nach der Hummel!

Doch langsam denk ich mich hinein, du Hummel,
und finde voller Lüste dein Gebrumm.
Wärst du am Ende mir vielleicht willkommen,
wie sonst gewöhnlich nur die schlanke Biene?
Verzichte ich vielleicht mal auf Gesumm
und lebte ausnahmsweise mehr gefährlich?

War's denn nicht relativ, dies "zu gefährlich",
das mich vermeiden ließ so jede Hummel?
Und mich auf einmal packt nun dies Gebrumm?
Dem will ich endlich auf die Schliche kommen –
versteckt sich Anderes als bei der Biene
mit ihrem ewig gleichen Wohlgesumm?

Ist es nicht einerlei, dass gilt Gesumm
gemeinhin doch als ziemlich ungefährlich,
zumindest im Vergleich mit einer Hummel
und deren durchaus lüsternem Gebrumm?
Wem es bestimmt jedoch, zu Fall zu kommen,
ist es egal, ob Hummel oder Biene!

Wie einer Biene / reizvolles Gesumm
gefährlich werden kann, / wird auch die Hummel
durch ihr Gebrumm / zu mancher Beute kommen.


1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-u

6: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-

5: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u

4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u

3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-

2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u

1+2: u-u-u-u-u-
3+4: u-u-u-u-u-u
5+6: u-u-u-u-u-u

● Da die 6 ZSW unterschiedliche Betonung tragen, kommt es zu wechselnden Verslängen von 10/11 Silben;
● Das in den Folgestrophen geltende Schema der ZSW-Anordnung wird  eingehalten; die Strophen haben deshalb weiterhin wechselnde Verslängen.
● Die Geleitstrophe ist 3-zeilig; sie setzt die ZSW in der Abfolge von Strophe (I) ein. Dadurch kommt es auch hier zu wechselnden Verslängen.
● In dieser Geleitstrophe steht nur das "linksseitige" ZSW "Biene" vers-mittig.
● Ausnahmsweise ist hier zur Sestine rechtsbündig die Metrik zur Verdeutlichung angegeben.

© elbwolf (W.H., 7.11.2017, bearbeitet)
/nach einem Vortrag des Verfassers am 12.8.2010 an der Schwabenakademie Irsee/

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