Hier schreiben Hobbydichter für Lyrik-Freunde – meist Gereimtes und nur Druckreifes! Willkommen also, viel Vergnügen mit unseren Gedichten und deren Bebilderung!

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Bereits seit Jahresbeginn bringen wir neue Folgen an Kalenderblättern und Monatsbildern. Darum herum dann das, was sich an Einfällen so ergibt – man wird sehen! Nun ja, was man auch sieht: wir "unterschlagen" seit einer ganzen Weile auch einen gewissen Anteil an sanfter Erotik nicht länger - die Zeiten sind eben so ...

Wir teilen den Lesern unseres Versbildners mit und bitten um Verständnis, dass wir auch weiterhin das monatliche Angebot auf 6 Beiträge beschränken - die Kontaktarmut dieser Zeit bringt leider auch eine gewisse Ideenarmut mit sich. Neueinstellungen erfolgen damit um die Kalendertage des 1., 6., 11., 16./17., 21./22., 25.-27. eines Monats.

Dienstag, 14. November 2017

Die Sestine: (3/3) – in vollendeter Art

(A) Das Anliegen

Die Sestine gilt in jeder Spielart als schwierig – zumindest "beim ersten Male".
Im Deutschen wurde sie zunächst von Martin Opitz nachgebildet, dann hat sich Schottel ihrer angenommen; auch die Schäferstündchen-Dichter haben sie "gebraucht". Dann brachten sie die deutschen Romantiker unter das Volk, und eigentlich sollte im nächsten Absatz die (einzige) Sestine Joseph Frhr. von Eichendorff's stehen, die zu ihrer Zeit tüchtig Furore gemacht hatte. Aber auch das Genie Eichendorff hat Regeln und Rhythmus nicht eingehalten – und so haben wir Friedrich Rückert das Feld überlassen!
Wer den Einstieg ins Format der Sestine über die zwei Vorstufen mit weniger Versen (also nur 2 oder 4 ZSW) und über die volle Sestine mit "6 durchgeschobenen ZSW" verinnerlicht hat, verfügt über alle Chancen, auch hier zurechtzukommen – wenn die Sestine in der Fassung "non plus ultra" vorgestellt und abgehandelt wird! 
Zur Abb.:
Friedrich Rückert (1788-1866), Carte de Visite (1876) nach einem Gemälde von B. Semptner.
Reproduktion G. J. Radig (2009).  Quelle: wikimedia.commons; Liz.: gemeinfrei.

(B) Rückert's Sestine – ein Beispiel in vollendeter Art

Hier also das Einführungsbeispiel zur vollendeten Sestine – vom wohl produktivsten deutschen Dichter des 19. Jh. – heute weitgehend vergessen:

Friedrich Rückert: Sestine (aus den italienischen Gedichten):
Wenn durch die Lüfte wirbelnd treibt der Schnee.
Text nach der Ausgabe im Verlag J. D. Sauerländer, Frankfurt/M., 1841.
Anm: Im Internet ist nur das Google-Faksimile von Rückert's Gedicht fehlerfrei!

Wenn durch die Lüfte wirbelnd treibt der Schnee,
Und lauten Fußtritts durch die Flur der Frost
Einhergeht auf der Spiegelbahn von Eis;
Dann ist es schön, geschirmt vorm Wintersturm,
Und unvertrieben von der holden Glut
Des eignen Herds, zu sitzen still daheim.

O dürft' ich sitzen jetzt bei der daheim,
Die nicht zu neiden braucht den reinen Schnee,
Die mit der sonn'gen Augen sanfter Glut
Selbst Funken weiß zu locken aus dem Frost!
Beschwören sollte sie in mir den Sturm,
Und tauen sollte meines Busens Eis!
. . .
1: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-

6: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-
. . .

An Rückert's Beispiel einer Sestine können wir als wirkliche Neuerung den Umgang mit den Zeilenschlussworten (ZSW) in den Folgestrophen erkennen, denn sonst ändert sich an ihrem Aufbau nichts weiter.
● sie hat 6 Strophen (gezeigt sind  hier nur die ersten beiden) zu je 6 Versen;
● die Metrik ist jambisch und 10/11-silbig. Ausnahmsweise ist hier zur Sestine rechtsbündig die Metrik zur Verdeutlichung angegeben.
● es werden 6 ZSW gebraucht, und Rückert verwendet neben 5 Substantiven nur eines einer anderen Wortart – ein bisschen schade!
● die ZSW reimen nicht – hier jedenfalls tun sie es nicht, könnten es aber.
● das Verfahren für die Anordnung der ein für allemal feststehenden ZSW in den Folgestrophen ist bei einer "Sestine in vollendeter Art" ein komplizierteres Verfahren, als nur das bloße Durchschieben der ZSW nach unten.
Zwar wird in jeder Strophe zunächst durchgeschoben und das aus der untersten (sechsten) Position hinausgeschobene ZSW in der jeweiligen Folgestrophe als oberstes gesetzt,  a b e r  die anderen vier ZSW werden systematisch auf ihren Plätzen vertauscht /die Regel wird in (C) angegeben/.
● Herausforderung wie Chance scheinen nach wie vor gute Übergänge zwischen den Strophen zu sein – da kann der Dichter erfinderisch sein (siehe oben die Handhabung von "daheim").
Doch davon abgesehen, wird dem Sestine-Dichter zugemutet, viel umsichtiger seine ZSW zu wählen und viel lockerer mit ihnen umzugehen, weil er in einer Folgestrophe kaum Ansatzpunkte findet, die Ideen aus der Abfolge in der vorherigen Strophe "bloß ein wenig abzuwandeln"!

(C) Die Sestine "in vollendeter Art"

● Mit ihren wieder 6 ZSW ergibt sich ihr Format zu 6x6+6/2=39 Versen, die in 6 Strophen zu je 6 Zeilen und eine abschließende Geleitstrophe von drei Zeilen gegliedert sind;
in jeder Strophe kommen alle 6 ZSW vor, und zwar im Hauptteil nur an den Versenden, im Geleit je zwei pro Vers: eines in der "vorderen Hälfte", das andere wieder strikt am Versende;
● der Rhythmus fordert unbetonte Versanfänge bei Verslängen von 10/11 Silben (also jambisch und wie beim Sonett);
● die Verse müssen nicht gereimt sein (sind es auch meistens nicht), dürften es aber;
● das "Durchschieben der ZSW nach unten mit Umstellen der restlichen" erfolgt im Hauptteil bei einer "Sestine der vollendeten Art" nach dem folgenden streng einzuhaltenden Schema:
Nummeriert man die ZSW der Strophe (I) durch, so gilt:
(I) 1,2,3,4,5,6 → (II) 6,1,5,2,4,3 → (III) 3,6,4,1,2,5 → (IV) 5,3,2,6,1,4 →
(V) 4,5,1,3,6,2 → (VI) 2,4,6,5,3,1.
● mit den von uns gewählten sechs ZSW – 4 Substantive und zwei Verben – liegt das Schema der ZSW-Umstellungen in folgender Weise konkret fest:
erzählen, ~Text, Verse, Strophen, ~schaffen, Gedicht →
Gedicht, erzählen, ~schaffen, ~Text, Strophen, Verse →
Verse, Gedicht, Strophen, erzählen, ~Text, ~schaffen →
~schaffen, Verse, ~Text, Gedicht, erzählen, Strophen →
Strophen, ~schaffen, erzählen, Verse, Gedicht, Text →
Text, Strophen, Gedicht, ~schaffen, Verse, erzählen.
● Anm.: Die Tilde steht für andere Vorsilben, z. B. beschaffen; Prosa-Text.


Der (ver)zweifelnde Poet

Du möchtest etwas freiheraus erzählen,
das dir zu schade scheint für schlichten Text,
und dächtest drum, du setztest es in Verse?
Nach Regeln bildest du aus denen Strophen,
die ihren Eindruck uns erst dann verschaffen,
wenn du das Ganze vorträgst als Gedicht!

Du meinst, es wäre einfach, im Gedicht
uns einen Inhalt bündig zu erzählen,
obwohl Gedichte das ganz anders schaffen,
als eben so ein bloßer Prosa-Text.
Es zahlt sich aus, weil diese festen Strophen
so gut verwahren die geschliff'nen Verse!

Die Sorgfalt richtet sich zunächst auf Verse –
nach ihnen heißt mitunter das Gedicht –
und Namen geben sie selbst manchen Strophen.
Erst dann geht es so richtig ans Erzählen,
das ist genau so wie bei jedem Text,
nur Aufwand kann man sich damit viel schaffen.

Will man für die ganz eignen Zwecke schaffen,
bedarf es augenscheinlich nicht der Verse:
man setzt sich hin, schreibt nieder seinen Text,
hat auch im Hinterstübchen kein Gedicht –
mag sonst wer Gegenteiliges erzählen:
der Alltag wird nicht eingeteilt in Strophen.

Besonderes fügt sich von selbst zu Strophen,
es ist auf seine eigne Art beschaffen …
Ein guter Schreiber schüttelt beim Erzählen
in einem fort – wie aus dem Ärmel – Verse,
bis er uns hochbeglückt zeigt sein Gedicht
das er für besser hält als jeden Text!

Wer ist so selbstkritisch zu seinem Text
und meint, es ginge diesmal nur in Strophen,
denn offensichtlich sei das ein Gedicht?
Mit dem lässt sich tatsächlich Eindruck schaffen,
man lauscht dir ganz gespannt auf deine Verse …
Ach – hast du wirklich etwas zu erzählen?

Du willst erzählen / bündig deinen Text?         
dann füge Verse / einsichtig zu Strophen –               
sie schaffen, was du suchst / ein gut Gedicht!


1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-

6: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u

3: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-u

5: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u

4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-

2: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u

1+2: u-u-u-u-u-
3+4: u-u-u-u-u-u
5+6: u-u-u-u-u-
     
 ● Da die 6 ZSW unterschiedliche Betonung tragen, kommt es zu wechselnden Verslängen von 11/10 Silben;
● Das in den Folgestrophen geltende Schema der ZSW-Anordnung wird  eingehalten; die Strophen haben deshalb weiterhin wechselnde Verslängen.
Außerdem führt diese Anordnung der ZSW-Betonung zu einer Rhythmusform,
die sich am lebendigsten anhört
● Die Geleitstrophe ist 3-zeilig; sie setzt die ZSW in der Abfolge von Strophe (I) ein. Dadurch kommt es auch hier zu wechselnden Verslängen.
● In dieser Geleitstrophe steht nur zwei der drei "linksseitigen" ZSW (nämlich "erzählen" und "Verse") vers-mittig.
● Wegen der Bedeutung des Abschlussbeispiels ist auch hier zur Sestine rechtsbündig die Metrik der besseren Verdeutlichung wegen angegeben.

© elbwolf (W.H.,12.11.2017)
/ nach dem Material des Verfassers zu einem Vortrag am 12.8.2010 im Lyrik-Seminar des Kultursommers an der Schwabenakademie Irsee /

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