(A) Das Anliegen
Die Sestine
gilt in jeder Spielart als schwierig – zumindest "beim ersten Male".
Im
Deutschen wurde sie zunächst von Martin Opitz nachgebildet, dann hat sich
Schottel ihrer angenommen; auch die Schäferstündchen-Dichter haben sie
"gebraucht". Dann brachten sie die deutschen Romantiker unter das
Volk, und eigentlich sollte im nächsten Absatz die (einzige) Sestine Joseph Frhr.
von Eichendorff's stehen, die zu ihrer Zeit tüchtig Furore gemacht hatte. Aber
auch das Genie Eichendorff hat Regeln und Rhythmus nicht
eingehalten – und so haben wir Friedrich Rückert das Feld überlassen!
Wer den
Einstieg ins Format der Sestine über die zwei Vorstufen mit weniger Versen (also nur
2 oder 4 ZSW) und über die volle Sestine mit "6 durchgeschobenen ZSW"
verinnerlicht hat, verfügt über alle Chancen, auch hier zurechtzukommen – wenn
die Sestine in der Fassung "non plus ultra" vorgestellt und abgehandelt wird!
Zur Abb.:
Friedrich
Rückert (1788-1866), Carte de Visite (1876) nach einem Gemälde von B. Semptner.
Reproduktion G. J. Radig (2009).
Quelle: wikimedia.commons; Liz.: gemeinfrei.
(B) Rückert's Sestine – ein Beispiel
in vollendeter Art
Hier also
das Einführungsbeispiel zur vollendeten Sestine – vom wohl produktivsten
deutschen Dichter des 19. Jh. – heute weitgehend vergessen:
Friedrich Rückert: Sestine (aus
den italienischen Gedichten):
Wenn durch die Lüfte wirbelnd treibt der Schnee.
Text nach der Ausgabe im Verlag J. D. Sauerländer, Frankfurt/M.,
1841.
Anm: Im
Internet ist nur das Google-Faksimile von Rückert's
Gedicht fehlerfrei!
Wenn
durch die Lüfte wirbelnd treibt der Schnee,
Und lauten Fußtritts durch die Flur der Frost
Einhergeht auf der Spiegelbahn von Eis;
Dann ist es schön, geschirmt vorm Wintersturm,
Und unvertrieben von der holden Glut
Des eignen Herds, zu sitzen still daheim.
O dürft'
ich sitzen jetzt bei der daheim,
Die nicht zu neiden braucht den reinen Schnee,
Die mit der sonn'gen Augen sanfter Glut
Selbst Funken weiß zu locken aus dem Frost!
Beschwören sollte sie in mir den Sturm,
Und tauen sollte meines Busens Eis!
. . .
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1: u-u-u-u-u-
2:
u-u-u-u-u-
3:
u-u-u-u-u-
4:
u-u-u-u-u-
5:
u-u-u-u-u-
6:
u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
4:
u-u-u-u-u-
3:
u-u-u-u-u-
. . .
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An Rückert's
Beispiel einer Sestine können wir als wirkliche Neuerung den Umgang mit
den Zeilenschlussworten (ZSW) in den Folgestrophen erkennen, denn sonst ändert
sich an ihrem Aufbau nichts weiter.
● sie hat 6
Strophen (gezeigt sind hier nur die
ersten beiden) zu je 6 Versen;
● die
Metrik ist jambisch und 10/11-silbig. Ausnahmsweise ist hier zur Sestine rechtsbündig
die Metrik zur Verdeutlichung angegeben.
● es werden
6 ZSW gebraucht, und Rückert verwendet neben 5 Substantiven nur eines einer
anderen Wortart – ein bisschen schade!
● die ZSW
reimen nicht – hier jedenfalls tun sie es nicht, könnten es aber.
● das
Verfahren für die Anordnung der ein für allemal feststehenden ZSW in den
Folgestrophen ist bei einer "Sestine in vollendeter Art" ein
komplizierteres Verfahren, als nur das bloße Durchschieben der ZSW nach unten.
Zwar wird
in jeder Strophe zunächst durchgeschoben und das aus der untersten
(sechsten) Position hinausgeschobene ZSW in der jeweiligen Folgestrophe als
oberstes gesetzt, a b e r die anderen vier ZSW
werden systematisch auf ihren Plätzen vertauscht /die Regel wird in (C)
angegeben/.
● Herausforderung
wie Chance scheinen nach wie vor gute Übergänge zwischen den Strophen zu sein –
da kann der Dichter erfinderisch sein (siehe oben die Handhabung von "daheim").
Doch davon
abgesehen, wird dem Sestine-Dichter zugemutet, viel umsichtiger seine ZSW zu
wählen und viel lockerer mit ihnen umzugehen, weil er in einer Folgestrophe
kaum Ansatzpunkte findet, die Ideen aus der Abfolge in der vorherigen Strophe
"bloß ein wenig abzuwandeln"!
(C) Die Sestine "in vollendeter
Art"
● Mit ihren
wieder 6 ZSW ergibt sich ihr Format zu 6x6+6/2=39 Versen, die in 6 Strophen zu
je 6 Zeilen und eine abschließende Geleitstrophe von drei Zeilen gegliedert
sind;
● in jeder Strophe kommen alle 6 ZSW vor,
und zwar im Hauptteil nur an den Versenden, im Geleit je zwei pro Vers: eines
in der "vorderen Hälfte", das andere wieder strikt am Versende;
● der
Rhythmus fordert unbetonte Versanfänge bei Verslängen von 10/11 Silben (also
jambisch und wie beim Sonett);
● die Verse
müssen nicht gereimt sein (sind es auch meistens nicht), dürften es aber;
● das
"Durchschieben der ZSW nach unten
mit Umstellen der restlichen" erfolgt im Hauptteil bei einer "Sestine
der vollendeten Art" nach dem folgenden streng einzuhaltenden Schema:
Nummeriert
man die ZSW der Strophe (I) durch, so gilt:
(I) 1,2,3,4,5,6 → (II) 6,1,5,2,4,3 → (III) 3,6,4,1,2,5
→ (IV) 5,3,2,6,1,4 →
(V) 4,5,1,3,6,2
→ (VI) 2,4,6,5,3,1.
● mit den von uns gewählten sechs
ZSW – 4 Substantive und zwei Verben – liegt das Schema der ZSW-Umstellungen in folgender
Weise konkret fest:
erzählen, ~Text, Verse, Strophen, ~schaffen,
Gedicht →
Gedicht, erzählen, ~schaffen, ~Text,
Strophen, Verse →
Verse, Gedicht, Strophen, erzählen, ~Text,
~schaffen →
~schaffen, Verse, ~Text, Gedicht,
erzählen, Strophen →
Strophen, ~schaffen, erzählen, Verse,
Gedicht, Text →
Text, Strophen, Gedicht, ~schaffen,
Verse, erzählen.
● Anm.: Die
Tilde steht für andere Vorsilben, z. B. beschaffen; Prosa-Text.
Der (ver)zweifelnde Poet
Du
möchtest etwas freiheraus erzählen,
das dir
zu schade scheint für schlichten Text,
und
dächtest drum, du setztest es in Verse?
Nach
Regeln bildest du aus denen Strophen,
die ihren
Eindruck uns erst dann verschaffen,
wenn du
das Ganze vorträgst als Gedicht!
Du
meinst, es wäre einfach, im Gedicht
uns einen
Inhalt bündig zu erzählen,
obwohl
Gedichte das ganz anders schaffen,
als eben
so ein bloßer Prosa-Text.
Es zahlt
sich aus, weil diese festen Strophen
so gut
verwahren die geschliff'nen Verse!
Die
Sorgfalt richtet sich zunächst auf Verse –
nach
ihnen heißt mitunter das Gedicht –
und Namen
geben sie selbst manchen Strophen.
Erst dann
geht es so richtig ans Erzählen,
das ist
genau so wie bei jedem Text,
nur
Aufwand kann man sich damit viel schaffen.
Will man
für die ganz eignen Zwecke schaffen,
bedarf es
augenscheinlich nicht der Verse:
man setzt
sich hin, schreibt nieder seinen Text,
hat auch
im Hinterstübchen kein Gedicht –
mag sonst
wer Gegenteiliges erzählen:
der
Alltag wird nicht eingeteilt in Strophen.
Besonderes
fügt sich von selbst zu Strophen,
es ist
auf seine eigne Art beschaffen …
Ein guter
Schreiber schüttelt beim Erzählen
in einem
fort – wie aus dem Ärmel – Verse,
bis er
uns hochbeglückt zeigt sein Gedicht
das er
für besser hält als jeden Text!
Wer ist
so selbstkritisch zu seinem Text
und
meint, es ginge diesmal nur in Strophen,
denn
offensichtlich sei das ein Gedicht?
Mit dem
lässt sich tatsächlich Eindruck schaffen,
man
lauscht dir ganz gespannt auf deine Verse …
Ach –
hast du wirklich etwas zu erzählen?
Du willst
erzählen / bündig deinen Text?
dann füge
Verse / einsichtig zu Strophen –
sie
schaffen, was du suchst / ein gut Gedicht!
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1:
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2:
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5:
u-u-u-u-u-u
6:
u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-
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2: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-u
5:
u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
6: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-u
5: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
4: u-u-u-u-u-u
6: u-u-u-u-u-
5: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
1: u-u-u-u-u-u
1+2:
u-u-u-u-u-
3+4:
u-u-u-u-u-u
5+6:
u-u-u-u-u-
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● Da die 6
ZSW unterschiedliche Betonung tragen, kommt es zu wechselnden Verslängen von
11/10 Silben;
● Das in
den Folgestrophen geltende Schema der ZSW-Anordnung wird eingehalten; die Strophen haben deshalb weiterhin
wechselnde Verslängen.
Außerdem
führt diese Anordnung der ZSW-Betonung zu einer Rhythmusform,
die sich am
lebendigsten anhört
● Die
Geleitstrophe ist 3-zeilig; sie setzt die ZSW in der Abfolge von
Strophe (I) ein. Dadurch kommt es auch hier zu wechselnden Verslängen.
● In dieser
Geleitstrophe steht nur zwei der drei "linksseitigen" ZSW (nämlich
"erzählen" und "Verse") vers-mittig.
● Wegen der
Bedeutung des Abschlussbeispiels ist auch hier zur Sestine rechtsbündig die
Metrik der besseren Verdeutlichung wegen angegeben.
© elbwolf (W.H.,12.11.2017)
/ nach dem
Material des Verfassers zu einem Vortrag am 12.8.2010 im Lyrik-Seminar des Kultursommers an der Schwabenakademie Irsee /
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