(A) Das Anliegen
Die Sestine
gilt als Großgedicht mit eben einem eigenen Namen: erfunden in der
Provence von Arnault Daniel im 12. Jh.; ausgeformt in Italien; von den
deutschen Romantikern eingebürgert; als "zu eigenartig und schwierig"
wieder vergessen; heutigentags ist sie ein Kandidat für eine Wiederbelebung durch Zuwendung
seitens der internationalen Lyrikergemeinschaft.
Auf
Versbildner war sie noch nie vertreten;
Literaturhinweise sind spärlich: siehe dazu im Teil (3/3)!
Abb.:
Arnault
Daniel; Standort: Bibliothèque en
ligne Gallica; Ident.-Nr. btv1b60007960; aus dem 13. Jh.; gemeinfrei;
Durch ihre Eigenschaften
stellt die Sestine eine echte Herausforderung dar – und zwar für Lyriker
jeglichen Schlags:
● sie ist
in Strophen gegliedert, die aber eng unter- und miteinander verflochten sind;
● ihre
Verse müssen nicht gereimt sein, sind es auch meistens nicht, dürften es aber;
die Endwörter der Verse sind also nicht in erster Linie bzw. überhaupt Reimwörter
zu entsprechenden Reimsilben und werden einfach als "Zeilenschlusswörter"
(ZSW) bezeichnet;
● der
Rhythmus fordert unbetonte Versanfänge bei Verslängen von 10/11 Silben (also
jambisch und wie beim Sonett) – es gab aber auch andere Rhythmusformen und
Verslängen, und sie könnten wieder versucht werden;
● der
"Hammer" für alle, die mit ihren Gedichten "wie immer vor allem
Inhalte rüberbringen" möchten, ist, einer Sestine überhaupt (!) einen
Inhalt zu geben, der in sich geschlossen (d. h. durchgängig) und logisch erscheint;
● sie ist
mit 6 Strophen zu je 6 Versen und einer "Geleitstrophe" am Ende mit 3
Versen (insgesamt also mit 39 Versen) recht lang und deutlich schwierig
anzugehen – zumindest für den Anfänger.
Aus diesem
Grund werden hier zwei Vorstufen gezeigt, mit denen man sich die eigentliche Sestine
erfolgreich "antrainieren" kann.
Die Idee
ist, zunächst nur 2x2+2/2=5 Verse, danach 4x4+4/2=18 und erst dann die
6x6+6/2=39 Verse der eigentlichen Sestine zu schreiben!
Als
Kuriosum sei vermerkt, dass es absolute Könner wie auch Übereifrige bis auf
12x12+12/2=150 Verse gebracht haben – was selbstverständlich jedem freistünde
(und wohl als Duodezime bezeichnet werden müsste)!
Anm.: Wegen der freundlichen
Aufnahme des im Vormonat hier veröffentlichten Pantun "Gesumm oder
Gebrummel" wollen wir dessen Gedanken- und Wortgut (das dort sogar gereimt
war) auch in den Sestine-Vorstufen verwenden.
(B) Die "Duodine" mit
2x2+2/2=5 Versen
Als die
zwei Zeilenschlusswörter ZSW dienen "Biene" und "Hummel". Da
beide ZSW nicht endbetont sind, wählen wir 11 Silben als Verslänge:
Voll Reiz
ist stets der Flug der schlanken Biene,
beinahe
torkelnd fliegt die dralle Hummel.
Geräuschvoll
ist Gebrumm von einer Hummel,
wie
schmusend das Gesumm der Honigbiene.
Es summt
die Biene – brummend fliegt die Hummel.
|
u-u-u-u-u-u
u-u-u-u-u-u
u-u-u-u-u-u
u-u-u-u-u-u
u-u-u/-u-u-u
|
Vorschriften
wie Freiheiten sind hier folgendermaßen eingehalten:
● Der
Hauptteil besteht aus 2 Verspaaren; im zweiten wird die Reihenfolge der ZSW
vertauscht.
● Ein ZSW darf
nur ganz am Versende stehen, kann aber auch letzter Bestandteil einer
Wortzusammensetzung sein, wie "Honigbiene".
● Die
Geleit"strophe" ist einzeilig; in der vorderen "Hälfte"
kommt das erste ZSW irgendwo vor; in der zweiten das zweite ZSW am Versende.
Anm.: Bei
11-Silbern kann die Vershälfte natürlich sowieso nicht mittig liegen!
Als
Geleitzeile könnte also durchaus auch stehen:
Die Biene
summt – stets brummend fliegt die Hummel.
|
●
Ausnahmsweise ist zu dieser Duodine rechtsbündig die Metrik angegeben, die
manches besser verdeutlich als die Beschreibung.
(C) Die "Quartine" mit
4x4+4/2=18 Versen
Als
entscheidende neue Eigenschaft kommt ein Verfahren für die Anordnung der ZSW in
den nachfolgenden Strophen hinzu, das ein bloßes Vertauschen (wie bei der
Duodine) ersetzt. Schon mit Blick auf die eigentliche Sestine wollen wir es
"Durchschieben der ZSW nach unten"
nennen. Das aus der untersten (vierten) Position einer Strophe hinausgeschobene
ZSW wird in der nächsten Strophe als oberstes gesetzt.
Nummeriert
man die ZSW der Strophe (I) durch, so hat man als Schema:
(I)
1,2,3,4 → (II) 4,1,2,3 → (III) 3,4,1,2 → (IV) 2,3,4,1.
Mit den ausgewählten vier ZSW folglich konkret:
Biene, Gesumm,
Hummel, Gebrumm → Gebrumm, Biene, Gesumm, Hummel →
Hummel,
Gebrumm, Biene, Gesumm → Gesumm, Hummel, Gebrumm, Biene.
Voll Reiz
ist stets der Flug der schlanken Biene,
die sich
so leicht verrät durch ihr Gesumm.
Dagegen
torkelt fast die dralle Hummel,
vernehmbar
ist ihr lustvolles Gebrumm.
Es geht massiv aufs Ohr, ein solch Gebrumm,
und niemand denkt dabei an eine Biene,
die man erkennt am reizvollen Gesumm –
wie lärmend fliegt dagegen solche Hummel!
Verlangen
spürt durchaus wohl eine Hummel,
sonst
flög' sie nicht gelüstig mit Gebrumm.
Beim
Haschen eines Opfers hilft der Biene,
dass raffiniert
sie setzt auf ihr Gesumm.
Doch
manchem wär's egal, ob nun Gesumm,
ob lüsternes Gebrummel einer Hummel
zu Fall ihn
brächte – ist doch dies Gebrumm
so aufreizend wie Summen einer Biene!
Wie einer
Biene / reizvollem Gesumm
verfällt der
Hummel man / auf ihr Gebrumm.
|
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4:
u-u-u-u-u-
4:
u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u
2:
u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
3: u-u-u-u-u-u
4:
u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u
2:
u-u-u-u-u-
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u
1+2: u-u-u/-u-u-
3+4: u-u-u-/u-u-
|
● Da die
neu hinzugekommenen ZSW endbetont sind und im Wechsel mit den vorherigen
eingesetzt werden, kommt es hier zu abwechselnden Verslängen von 11/10 Silben;
● Das in
den Folgestrophen geltende Schema der ZSW-Anordnung wird eingehalten. Alle Strophen haben deshalb
abwechselnde Verslängen.
● Die
Geleitstrophe ist zweizeilig und setzt die ZSW in der Abfolge von Strophe-I
ein. Dadurch kommen die endbetonten ZSW an die Versenden und die Verse der
Geleitstrophe sind hier 10-Silber.
● Auch in
dieser Geleitstrophe steht "Hummel" nicht vers-mittig.
●
Ausnahmsweise ist auch hier zu dieser Quartine rechtsbündig die Metrik zur
Verdeutlichung angegeben.
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Ein Hinweis:
Diese
Quartine verwendet 4 Hauptworte als ZSW, was wohl die einfachste Variante
darstellt: schwieriger wird es bei Verwendung auch von Tätigkeits- und
Eigenschaftsworten! In den beiden ausstehenden Teilen zur Sestine soll das
ebenfalls gezeigt werden.
© elbwolf (W.H., 4.11.2017, bearbeitet)
/nach einem Vortrag des Verfassers am 12.8.2010 an der Schwabenakademie Irsee/
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Entschuldigung des
Verfassers:
Mit Bestürzung musste ich auf Hinweis eines Kollegen feststellen, dass sich
bis zu diesem Augenblick (Montag, 6.11.2017, 22:45) anstelle der Quartine eine
alte Manuskriptstelle (und zwar fälschlich mit Durchschieben der ZSW nach oben)
eingeschlichen hatte. Ich habe das jetzt berichtigt: die korrekte Variante liest sich weitgehend wie die frühere mit vertauschten Strophen 2 und
4 - es ist eben keiner gegen Fehlerteufel gefeit ... Asche auf mein Haupt!
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