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Bereits seit Jahresbeginn bringen wir neue Folgen an Kalenderblättern und Monatsbildern. Darum herum dann das, was sich an Einfällen so ergibt – man wird sehen! Nun ja, was man auch sieht: wir "unterschlagen" seit einer ganzen Weile auch einen gewissen Anteil an sanfter Erotik nicht länger - die Zeiten sind eben so ...

Wir teilen den Lesern unseres Versbildners mit und bitten um Verständnis, dass wir auch weiterhin das monatliche Angebot auf 6 Beiträge beschränken - die Kontaktarmut dieser Zeit bringt leider auch eine gewisse Ideenarmut mit sich. Neueinstellungen erfolgen damit um die Kalendertage des 1., 6., 11., 16./17., 21./22., 25.-27. eines Monats.

Samstag, 4. November 2017

Die Sestine: 1(3) – Zwei Vorstufen mit weniger Versen

(A) Das Anliegen

Die Sestine gilt als Großgedicht mit eben einem eigenen Namen: erfunden in der Provence von Arnault Daniel im 12. Jh.; ausgeformt in Italien; von den deutschen Romantikern eingebürgert; als "zu eigenartig und schwierig" wieder vergessen; heutigentags ist sie ein Kandidat für eine Wiederbelebung durch Zuwendung seitens der internationalen Lyrikergemeinschaft.
Auf Versbildner war sie noch nie vertreten;
Literaturhinweise sind spärlich: siehe dazu im Teil (3/3)!

Abb.: 
Arnault Daniel; Standort: Bibliothèque en ligne Gallica; Ident.-Nr. btv1b60007960; aus dem 13. Jh.; gemeinfrei;

Durch ihre Eigenschaften stellt die Sestine eine echte Herausforderung dar – und zwar für Lyriker jeglichen Schlags:
● sie ist in Strophen gegliedert, die aber eng unter- und miteinander verflochten sind;
● ihre Verse müssen nicht gereimt sein, sind es auch meistens nicht, dürften es aber; die Endwörter der Verse sind also nicht in erster Linie bzw. überhaupt Reimwörter zu entsprechenden Reimsilben und werden einfach als "Zeilenschlusswörter" (ZSW) bezeichnet;
● der Rhythmus fordert unbetonte Versanfänge bei Verslängen von 10/11 Silben (also jambisch und wie beim Sonett) – es gab aber auch andere Rhythmusformen und Verslängen, und sie könnten wieder versucht werden;
● der "Hammer" für alle, die mit ihren Gedichten "wie immer vor allem Inhalte rüberbringen" möchten, ist, einer Sestine überhaupt (!) einen Inhalt zu geben, der in sich geschlossen (d. h. durchgängig) und logisch erscheint;
● sie ist mit 6 Strophen zu je 6 Versen und einer "Geleitstrophe" am Ende mit 3 Versen (insgesamt also mit 39 Versen) recht lang und deutlich schwierig anzugehen – zumindest für den Anfänger.

Aus diesem Grund werden hier zwei Vorstufen gezeigt, mit denen man sich die eigentliche Sestine erfolgreich "antrainieren" kann.
Die Idee ist, zunächst nur 2x2+2/2=5 Verse, danach 4x4+4/2=18 und erst dann die 6x6+6/2=39 Verse der eigentlichen Sestine zu schreiben!
Als Kuriosum sei vermerkt, dass es absolute Könner wie auch Übereifrige bis auf 12x12+12/2=150 Verse gebracht haben – was selbstverständlich jedem freistünde (und wohl als Duodezime bezeichnet werden müsste)!
Anm.: Wegen der freundlichen Aufnahme des im Vormonat hier veröffentlichten Pantun "Gesumm oder Gebrummel" wollen wir dessen Gedanken- und Wortgut (das dort sogar gereimt war) auch in den Sestine-Vorstufen verwenden.

(B) Die "Duodine" mit 2x2+2/2=5 Versen
Als die zwei Zeilenschlusswörter ZSW dienen "Biene" und "Hummel". Da beide ZSW nicht endbetont sind, wählen wir 11 Silben als Verslänge:

Voll Reiz ist stets der Flug der schlanken Biene,
beinahe torkelnd fliegt die dralle Hummel.


Geräuschvoll ist Gebrumm von einer Hummel,
wie schmusend das Gesumm der Honigbiene.


Es summt die Biene – brummend fliegt die Hummel.
u-u-u-u-u-u
u-u-u-u-u-u


u-u-u-u-u-u
u-u-u-u-u-u


u-u-u/-u-u-u

Vorschriften wie Freiheiten sind hier folgendermaßen eingehalten:
● Der Hauptteil besteht aus 2 Verspaaren; im zweiten wird die Reihenfolge der ZSW vertauscht.
● Ein ZSW darf nur ganz am Versende stehen, kann aber auch letzter Bestandteil einer Wortzusammensetzung sein, wie "Honigbiene".
● Die Geleit"strophe" ist einzeilig; in der vorderen "Hälfte" kommt das erste ZSW irgendwo vor; in der zweiten das zweite ZSW am Versende.
Anm.: Bei 11-Silbern kann die Vershälfte natürlich sowieso nicht mittig liegen!
Als Geleitzeile könnte also durchaus auch stehen:

Die Biene summt – stets brummend fliegt die Hummel.

● Ausnahmsweise ist zu dieser Duodine rechtsbündig die Metrik angegeben, die manches besser verdeutlich als die Beschreibung.

(C) Die "Quartine" mit 4x4+4/2=18 Versen
Als entscheidende neue Eigenschaft kommt ein Verfahren für die Anordnung der ZSW in den nachfolgenden Strophen hinzu, das ein bloßes Vertauschen (wie bei der Duodine) ersetzt. Schon mit Blick auf die eigentliche Sestine wollen wir es "Durchschieben der ZSW nach unten" nennen. Das aus der untersten (vierten) Position einer Strophe hinausgeschobene ZSW wird in der nächsten Strophe als oberstes gesetzt.
Nummeriert man die ZSW der Strophe (I) durch, so hat man als Schema:
                     (I) 1,2,3,4 → (II) 4,1,2,3 → (III) 3,4,1,2 → (IV) 2,3,4,1.

Mit den ausgewählten vier ZSW folglich konkret:
Biene, Gesumm, Hummel, GebrummGebrumm, Biene, Gesumm, Hummel
Hummel, Gebrumm, Biene, GesummGesumm, Hummel, Gebrumm, Biene.


Voll Reiz ist stets der Flug der schlanken Biene,
die sich so leicht verrät durch ihr Gesumm.
Dagegen torkelt fast die dralle Hummel,
vernehmbar ist ihr lustvolles Gebrumm. 

Es geht massiv aufs Ohr, ein solch Gebrumm,
und niemand denkt dabei an eine Biene,
die man erkennt am reizvollen Gesumm –
wie lärmend fliegt dagegen solche Hummel!

Verlangen spürt durchaus wohl eine Hummel,
sonst flög' sie nicht gelüstig mit Gebrumm.
Beim Haschen eines Opfers hilft der Biene,
dass raffiniert sie setzt auf ihr Gesumm. 

Doch manchem wär's egal, ob nun Gesumm,
ob lüsternes Gebrummel einer Hummel
zu Fall ihn brächte – ist doch dies Gebrumm
so aufreizend wie Summen einer Biene!

Wie einer Biene / reizvollem Gesumm
verfällt der Hummel man / auf ihr Gebrumm.
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-

4: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u

3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u
2: u-u-u-u-u-

2: u-u-u-u-u-
3: u-u-u-u-u-u
4: u-u-u-u-u-
1: u-u-u-u-u-u

1+2: u-u-u/-u-u-
3+4: u-u-u-/u-u-

● Da die neu hinzugekommenen ZSW endbetont sind und im Wechsel mit den vorherigen eingesetzt werden, kommt es hier zu abwechselnden Verslängen von 11/10 Silben;
● Das in den Folgestrophen geltende Schema der ZSW-Anordnung wird  eingehalten. Alle Strophen haben deshalb abwechselnde Verslängen.
● Die Geleitstrophe ist zweizeilig und setzt die ZSW in der Abfolge von Strophe-I ein. Dadurch kommen die endbetonten ZSW an die Versenden und die Verse der Geleitstrophe sind hier 10-Silber.
● Auch in dieser Geleitstrophe steht "Hummel" nicht vers-mittig.
● Ausnahmsweise ist auch hier zu dieser Quartine rechtsbündig die Metrik zur Verdeutlichung angegeben.
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Ein Hinweis:
Diese Quartine verwendet 4 Hauptworte als ZSW, was wohl die einfachste Variante darstellt: schwieriger wird es bei Verwendung auch von Tätigkeits- und Eigenschaftsworten! In den beiden ausstehenden Teilen zur Sestine soll das ebenfalls gezeigt werden.

© elbwolf (W.H., 4.11.2017, bearbeitet)
/nach einem Vortrag des Verfassers am 12.8.2010 an der Schwabenakademie Irsee/ 

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Entschuldigung des Verfassers:
Mit Bestürzung musste ich auf Hinweis eines Kollegen feststellen, dass sich bis zu diesem Augenblick (Montag, 6.11.2017, 22:45) anstelle der Quartine eine alte Manuskriptstelle (und zwar fälschlich mit Durchschieben der ZSW nach oben) eingeschlichen hatte. Ich habe das jetzt berichtigt: die korrekte Variante liest sich weitgehend wie die frühere mit vertauschten Strophen 2 und 4 - es ist eben keiner gegen Fehlerteufel gefeit ... Asche auf mein Haupt!

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