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Carl von Marr (1858–1936): Adam und Eva in moderner Auffassung
oder Ritter und Junges Weib (~1900?);
via wikimedia.commons & hampel-auctions;
gemeinfrei.
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Langer Weg zu einer "literarischen
Quelle"
Mir gerieten die
Verse eines Kollegen in die Hände, die auf den ersten Eindruck hin recht
belustigend wirkten und als "alte Ballade" bezeichnet waren:
Die Gräfin stand auf einer ihrer Burgen –
Das Angesicht umflort von Kummer und von Surgen.
~ ~ ~
Und wisse, dass das Grab sich selber schaufelt,
Wer an dem eigenen Geschick verzwaufelt.
Keine Frage: eine
Parodie mit so genannten "schmutzigen Reimen" als Kunstform oder
etwas nach der Devise "Reim dich, oder …!"
Kein © dabei – also
erst einmal zweifeln. Google, angefüttert mit "Gräfin und Ritter",
könnte es wissen … Volltreffer – und artig variiert noch dazu!
Es saß die Gräfin auf der Zinne ihrer Burgen
Das Aug' umflort von Kummer und von Surgen
~ ~ ~
Und wieder kein ©!
Der Gesangskünstler wird doch nicht ebenfalls einer Versuchung erlegen sein? Er
war!
Unbekannt:
Entsetzlich
Es sitzt die Gräfin auf der Zinne ihrer Burgen,
Das Angesicht umflort von Kummer und von Surgen
~ ~ ~
Ein definitiv
"neuer" Titel und ein erneut abweichender Text – also weitermachen!
Und tatsächlich: im
bekannten Verlag C. H. Beck hat Albert von Schirnding 2007 ein Hausbuch deutscher Dichtung "Der ewige Brunnen" (1133 S., mehr
als 1600 Gedichte) neu herausgegeben, das in mehreren Auflagen erschien und
wohl noch verfügbar ist: sie alle enthalten "unser" Werklein:
Unbekannt:
Entsetzlich
Damit wären wir in
der Sackgasse gelandet, aber Google fährt nicht nur im Lande herum und knipst
Street maps zusammen, es scannt auch alte Bücher und Zeitschriften, darunter
diese:
Entsetzlich
Autor unbekannt
Die
"Punscher" hatten den Abdruck so angekündigt: "Eine
Ballade, die allen wühlerischen Tendenzen ausweicht, und sich immer auf dem
harmlosen Gebiet der Romantik bewegt" – 1848 war ja gerade erst ein Jahr
her! Vielleicht wollte Google nun auch
einmal hinter die 1848er Barrikaden schauen und scannte darum aus
"friedlicheren Zeiten" gewissenhaft auch noch dies:
vom Sonntag, dem 31.
Oktober 1847 (III. Jahrgang), S.175/6:
Entsetzlich.
Eine Ballade in zwei
Theilen.
~ ~ ~
(Rieritz)
Da taucht er endlich
aus dem Nichts auf, der Verfasser dieser fast schon Posse: "Rieritz"
heißt er, und das ist vorläufig alles, was wir über ihn wissen.
Aber es bereitet Vergnügen, nach 170
Jahren Verheimlichung erstmals wieder seinen Namen zu nennen, zumal er sich
dort im Morgenblatt in bester Gesellschaft befindet, denn unmittelbar vor ihm sind Friedrich
Hebbel sowie Joseph Freiherr von Eichendorf mit seiner Novelle "Aus dem
Leben eines Taugenichts" abgedruckt.
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Getrennt von diesem Recherchebericht
bringe ich meine eigene Fassung von "Gräfin und Ritter" auf
Versbildner in Form einer Moritat, nacherzählt mit Ghaselen-Strophen, und das
unmittelbar hier drüber.
© elbwolf /für Text
und Recherche/
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Als Zugabe der
Wortlaut des Originals
Erstmals nach 170
Jahren mit Nennung des Autors, von dem bislang nur der Name bekannt ist, sonst
nichts.
"Ansbacher Morgenblatt für Stadt und Land", Nr.
44
vom Sonntag, dem 31. Oktober 1847 (III. Jahrgang),
S.175/6
Rieritz:
Entsetzlich. Eine Ballade in zwei Theilen.
Erster Theil.
Es sitzt die Gräfin auf der Zinne ihrer Burgen,
Das Angesicht
umflort von Kummer und von Surgen.
Halb welk ist schon die jugendliche Holde;
So schaut sie tief hinab auf das Gefolde.
Da blühet Alles in
des Frühlings Prangen
Und Jubel tönet von
der Vöglein Zangen.
Die Rosen duften und die Nelken sprossen;
Und Philomele flötet aus Cyprossen.
Die Lerchen
schmettern und die Käfer summen,
Da klagt die Gräfin:
"Wann wird er wohl kummen?"
Ob mich ein Dämon seiner wohl beraubet?
Wo säumt der Mann, den meine Seele laubet?
Ist er mir jetzt schon
gram? Will er mir trotzen?
Dass er mich läßt
auf dieser Zinne sotzen?
Bricht er die Treue, die er mir geschworen,
Bricht er die Treue schon nach dritthalb Johren?
Hab' ich's
verschuldet, dass er meiner spottet?
War mein Geschick
mit seinem nicht verkottet?
So klagt die Gräfin und ihr Aug', ihr schwarzes,
Es rinnt im Uebermaß des tiefsten Schmarzes.
Ihr Wort erstickt im
bittersten Geschluchze
Und in Verzweiflung
faßt sie eine Buchse.
Sie spannt den Hahn – von Satanas verlocket –
Drückt los und – ach! – schon liegt sie hingestrocket.
Sie liegt entseelt,
durchschossen auf dem Boden,
Und neben ihr die
Waffe, die sie selbst geloden.
Zweiter Theil.
Kaum aber hat ihr
Leben sie verloren,
Sieht man auf's
Schloß zu einen Ritter galloporen.
Schon ist er da; schon springt er von dem Rappen
Und eilt hinauf die langen Wendeltrappen.
Schon ist er auf der
Zinne, ach! und sieht mit schrecken
Die blasse Leiche
vor der starren Blecken.
Da stampft er wild den Boden mit den Stiefeln
Und ruft: "warum, o Gräfin, mußtest du verzwiefeln?" –
Warum konnt'st du, o
Holdeste der Holden,
Dich nicht noch
einen Augenblick gedolden?
Und muß ich Dich als blut'ge Leiche schauen,
Was soll ich jetzt in dieser Welt noch thauen?"
Er spricht's; es
funkeln seine wilden Augen,
Und aus der Scheide
zieht er seinen Daugen.
Und schwingt ihn keck und mit dem grimmsten Trotze
Stößt er sich in die Brust die scharfe Spotze.
Er sinket nun mit
einem Schmerzeslaute,
Und schon liegt er
entseelt in seinem Blaute.
Mit Schrecken sieht man bald vom Zinnengatter
Den Leichnam von der Gräfin und dem Ratter.
Nutzanwendung.
Der Uebereilung kann
nichts Gutes nicht entwachsen;
O hüte dich vor
Degen, Dolch und Bachsen!
Und wisse, daß sein Grab sich selber schaufelt,
Wer an dem eigenen Geschick verzwaufelt.
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Wer dächte, das könne
doch nicht alles an dichterischem Ulk sein, der hat recht.
Ein paar
Beispiele:
Wilhelm Busch, im Vorwort
zum heiligen Antonius von Padua:
Wehe! Selbst im guten
Öster-
Reiche tadelt man die
Klöster – –
Christian Morgenstern: Der Lattenzaun:
Der Architekt jedoch
entfloh
nach Afri- od- Ameriko.
und ein leider nicht identifizierbarer
Kommentator in einer Community:
Die Zukunft, die Welt, sie wird digital san, -
Doch der Fortschrittsbalken kommt kaum hinten
an!
Ja, der Download stockt, er schlägt gar fehl
-
Wo ist hier das
Glasfaserkabel?
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