Der Hobby-Poet stellt sich
auch großen Strophen!
Elementares vorweg:
Schaut man sich an,
was für (gereimte natürlich!) Strophen der durchschnittliche (das ist nicht
diskriminierend gemeint, sonst hätte ich 08-15 geschrieben!) Hobby-Dichter verwendet,
so sind das Paarreimer, einzeln, im Doppelpack oder zu größeren
Absätzen verbandelt. Wenn wir üblicherweise die verschiedenen Reimsilben der beteiligten
Reimwörter mit Kleinbuchstaben bezeichnen, dann sind das Versfolgen der Art: aa
bb cc ~ xx yy zz, die an Varianten ebenfalls Bündelungen wie aabb cc.. ~
..xx yyzz und vielfältige weitere beinhalten.
Die meisten wagen sich bald an die gekreuzten
Reime abab cdcd ~ yzyz, die im Falle von regelmäßig abwechselnden unbetonten
und betonten Endungen Wechselreime heißen.
Seltenheitswert haben aber bereits die umfassenden
(= umschließenden, umarmenden) Reime abba ~ yzzy, die man ebenfalls
reihen bzw. packen könnte.
Das Ende ist das noch nicht, denn das bilden unter den
elementaren Konzepten des Reimens und der Strophenbildung erst die 6-zeiligen schweifenden
Reime aabccb, bei denen ein dritter Paarreimer zwischen die beiden Verse
des zweiten eingeschoben ist. Mit ihnen experimentiert niemand – wenn aber aabccb
geht, warum schreckt man vor abbacc zurück? Oder vor aabcbc, ababcc,
oder … oder …?
Reimen und Strophenbildung
– in Lenau'scher Weise
Das Lehr- und Lesebuch über das Handwerkliche in der
deutschen Dichtkunst von Josef Viktor Stummer stellt Gedichte vor
(S. 67/68), die mit einmal frei wiederkehrenden Reimen
gebildet werden. Bei ihnen wechseln gepaarte, gekreuzte und umfassende Reime
beliebig – d. h. in unregelmäßiger Folge – miteinander ab.
Wie weit man damit käme? Sehr weit!
Stellen Sie sich einen 14-Zeiler dieser Art vor: ababcdcdefefgg
(3 Kreuz- und ein Paarreimer).
WENN Sie bereit wären, die folgenden Zugeständnisse
zu machen:
·
alle Zeilen sind übervollständige jambische
5-Heber,
·
die sich auch regelmäßig mit vollständigen 5-Hebern
abwechseln dürften;
·
wobei zu einem Sachverhalt die gekreuzten Verse abab
eine These aufstellen,
·
und zum gleichen Sachverhalt die gekreuzten
Verse cdcd eine Antithese;
·
die gekreuzten Verse efef Ihre eigene Überlegung
verkörpern,
·
also jeder Kreuzreim logisch und zwangsweise mit
einem Satzende schließt
·
und der abschließende Paarreimer gg ein Fazit
darstellt;
·
diese vier Teile voneinander durch Leerzeilen
getrennt sind, also:
abab cdcd efef gg
DANN hätten Sie ein englisches Sonett vor sich, wie
Shakespeare Hunderte schrieb!
Ein Prinzipbeispiel –
Lenaus "Ahasver"
J. V. Stummer bringt als ein Beispiel den Anfang des Poems "Ahasver, der ewige Jude",
das der österreichische Spätromantiker Nikolaus Lenau (1802-50) in den Jahren 1827-31
schrieb. Unter dem Link zum Gutenberg-Projekt steht der Volltext, hier sei nur
noch auf eine weitere Besonderheit und Formulierungserleichterung hingewiesen:
Im Anfangsteil "ababcddc…zz" von
"Ahasver" geht der erste (Kreuz)Reim in den zweiten (Umfassungs)Reim
über, ohne dass der Kreuzreimer sein Satzende gefunden hätte. Auch diese
Freiheit hat man also.
Und nun zu einem eigenen Beispiel: ein Gedicht aus drei 10-zeiligen
Strophen.
./.
Shopping en famille
/einmal frei
wiederkehrende Reime/
Was gibt es
Neues in der Stadt? Mal sehn,
woher beim
Neuesten die Winde wehn …
Von
Menschentrauben ist der Marktplatz voll,
an jeder Bude
drängen sich die Massen –
was aber finden
sie denn nur so toll,
dass man kein
Stück davon bekommt zu fassen?
Das lange Anstehn
lässt sie richtig schmachten:
sie gieren nicht
nach Kunst – sie wollen essen!
Erst wenn sie
satt sind, singen sie die Messen
und würden auch noch
anderes beachten.
Sie sind jetzt
satt! Ihr Plan ist nicht geheim –
es ist ja nahzu
jedes Mal der gleiche.
Man geht dem
Kleidermann nun auf den Leim
und hofft, dass
seine Auswahl allen reiche.
Verhallen muss
da jeder Ruf nach Kunst:
sie steht nach
Art der Lage nicht in Gunst!
Am Wühltisch
herrscht dagegen großes Treiben:
Klamotten hat
man massenhaft Zuhause –
wer das bestritte,
wäre ein Banause,
doch gar nichts einzukaufen
lässt man bleiben.
Dann auf zur
Kunst! Der Weg dahin ist lang!
Teils weiß man
nicht genau, was so vonnöten –
dies
Minderwertigkeitsgefühl macht bang –
man möchte wegen
Ramsch nicht gleich erröten.
Das Sortiment
hat leider kein Niveau,
es mengt so wahllos
durcheinander alle Stile
(dabei gibt’s
doch von denen gar nicht viele) –
das ist nicht
neu, das war schon immer so.
"Ach
Kinder, haltet mich nicht für vermessen:
ich hätte Lust, zunächst
etwas zu essen!"
© elbwolf (13.09.2019;
durchgesehen)
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Anmerkungen:
1. Lässt
man zum besseren Vergleich die Reimung der Verse in jeder Strophe mit den
gleichen Kürzeln beginnen (a – erster Reim in erster Strophe, hier in Zeilen
1+2; a – erster Reim in zweiter Strophe, hier in Zeilen 1+3 usw.), dann gilt:
in Strophe-1: aabcbcdeed; in Strophe-2: ababccdeed; in Strophe-3: ababcddcee.
2. Rhythmisch
sind die Verse jambisch 5-hebig.
3. Die
Annahme, dass in jeder Strophe alle drei reimerischen Grundformen je einmal vorkommen
(was eine 10zeilige Strophe ergibt), geschah nur der Systematik wegen.
Tatsächlich kann man jede Grundform eine beliebige Anzahl von Malen – oder auch
gar nicht – mit den anderen zusammensetzen und das in jeder Strophe (resp. in jedem Absatz) anders
handhaben.
4. Selbstverständlich
kann man eine einzige solche "Mischung" bereits als fertiges Gedicht ausgeben.
5. Es
bestehen weitere Freiheiten, wie Übergang der Grundformen ineinander ohne
Satztrennung und beliebiger Umfang der Bündelungen.
Nicht vorgesehen sind mehrfach frei wiederkehrende Reime – sie führen auf
besonders benannte Gedichtformen, die man auch gesondert behandeln muss.
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